Hartz IV Krisengipfel im Kanzleramt

Im Streit um Hartz IV nimmt der Druck auf Wirtschaftsminister Wolfgang Clement zu. In die Debatte will sich jetzt auch Kanzler Gerhard Schröder einschalten - und zwar sofort. Am Mittwochabend lädt er zum Krisengipfel im Kanzleramt.

Angesichts der Massenproteste wird eine Überarbeitung der Arbeitsmarktreform Hartz IV zur Chefsache: Regierungssprecher Bela Anda kündigte in der Tageszeitung "Die Welt" an, die offenen Fragen würden "unter Einschaltung des Kanzlers zeitnah geklärt". Dabei gehe es um den ersten Auszahlungstermin des Arbeitslosengeldes II und mögliche Freibeträge für Ausbildungsversicherungen. Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering erklärte, bei der Umsetzung der Reform werde Kritik mittels "Konkretisierungen" berücksichtigt.

Spitzenrunde am Abend im Kanzleramt

Diese "zeitnahen Konkretisierungen" sollen schon am Mittwochabend vorgenommen werden. Schröder will sich dann persönlich in den Streit einmischen und in einer Spitzenrunde mit dem Wirtschafts- und dem Finanzministerium über die Auszahlungsmodalitäten für das künftige Arbeitslosengeld II beraten.

In Regierungskreisen hieß es, an der Spitzenrunde im Kanzleramt würden auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, Finanzminister Hans Eichel sowie Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier teilnehmen.

"Gesetzesänderung ausgeschlossen"

Müntefering sagte, bei der Festlegung der Ausführungsbestimmungen solle auf Kritikpunkte eingegangen werden. Eine Änderung des Gesetzes schloss er aber aus. Es gebe keinen Nachbesserungsbedarf, sondern lediglich "Konkretisierungsbedarf". Auch Kindersparbücher und Ausbildung gehörten "zu den Prüfaufträgen". Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement stellte in der "Berliner Zeitung" klar, dass ausdrücklich gekennzeichnete Ausbildungs-Vorsorgeverträge "im Rahmen des Schutzvermögens von Eltern und Kindern anerkannt" würden.

Der Sprecher der SPD-Fraktion für Wirtschaft und Arbeit, Klaus Brandner, sagte der "Financial Times Deutschland", man werde auch eine Ausweitung der Härtefallregelung für ältere Arbeitslose prüfen. "Es wird nur Nachbesserungen im Detail geben, aber die Härtefallregelung für ältere Menschen müssen wir noch mal prüfen." Bisher gilt, dass vor dem 1. Januar 1948 Geborene pro Lebensjahr 520 Euro bis zu einer Höchstgrenze von 33.888 Euro behalten dürfen. Diese Personengruppe soll wahrscheinlich ausgeweitet werden.

Clements Ministerium wies einen Bericht des "Tagesspiegel" zurück, wonach bis Mitte kommender Woche die Regelung zurückgenommen werden soll, die zur Auszahlungslücke beim Arbeitslosengeld II führt. Sprecherin Sabine Maass erklärte, die Gespräche würden Ende August geführt. Für die anderen zu Hartz IV geäußerten Fragen sei der Minister aber "selbstverständlich gesprächsbereit".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Zahltag am Monatsanfang

Das Problem entsteht, weil die Arbeitslosenhilfe immer am Monatsende ausgezahlt wird, letztmals Ende Dezember. Zahltag für das neue Arbeitslosengeld II ist der Monatsanfang. Die Bezieher von Arbeitslosenhilfe würden wegen der Umstellung innerhalb weniger Tage zwei Zahlungen erhalten. Clement will das Geld darum erstmals Anfang Februar auszahlen. Dafür erhält der Betroffene, wenn er eine neue Stelle antritt, im ersten Monat zweimal Geld: Zu Beginn noch einmal das ALG II und am Monatsende den Lohn vom Arbeitgeber.

SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles sagte der Zeitung, Clement habe "nicht begriffen, dass die einmonatige Nichtauszahlung des Arbeitslosengeldes II eine Größe ist, die sich für die SPD politisch nicht rechnet". Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte eine Korrektur der Entscheidung. SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler nannte im "Tagesspiegel" die Vermittlung der Reform durch die Regierung eine "kommunikative Katastrophe".

Die Arbeitsmarktexpertin der Grünen, Thea Dückert, sagte der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (Mittwoch), der Spielraum von Hartz IV müsse genutzt werden, ohne das Gesetz erneut aufzuschnüren. "Wir wollen Ausbildungsversicherungen für Kinder bei der Anrechnung von Vermögen freistellen." Aber auch über höhere Freibeträge beim Vermögen für ältere Arbeitslose müsse geredet werden.

Oppositionsstreit über Verschiebung der Reform

CDU und FDP streiten derweil über eine Verschiebung der Reform. Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Jürgen Rüttgers hält eine Korrektur noch rechtzeitig zum In-Kraft-Treten Anfang Januar für möglich und sprach sich für parteiübergreifende Gespräche aus. Er wies Forderungen anderer Unionspolitiker nach einem Moratorium bei der Arbeitsmarktreform zurück. Der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) sagte der "Leipziger Volkszeitung", man brauche keine Verschiebung, sondern eine solide Umsetzung. Der stellvertretende FDP-Chef Rainer Brüderle forderte eine Verschiebung um ein halbes Jahr.

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, schlägt eine gestaffelte Einführung der Hartz-IV-Reform vor. Es sei besser, die Umstellung auf das Arbeitslosengeld II nicht "Knall auf Fall" am 1. Januar in Kraft treten zu lassen, sagte der CDU-Politiker der "Sächsischen Zeitung" (Mittwochausgabe). "Es wäre denkbar, die Sozialhilfe zum 1. Januar, die Arbeitslosenhilfe erst im Verlauf des ersten Vierteljahres auf das Arbeitslosengeld II umzustellen." Durch eine solche Entzerrung sei auch die Diskussion um die Auszahlungslücke vom Tisch.

DGB unterstützt Proteste

Auf den Erfolg der Montagsdemonstrationen gegen die "falsche Richtung" der Hartz-Reformen hofft der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). "Die Bundesregierung macht sich Illusionen, wenn sie noch immer meint, ihr Ansehensproblem bei den Bürgern hänge mit der schlechten Vermittlung ihrer Politik zusammen", sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer der "Leipziger Volkszeitung" (Mittwoch). "Es geht fast nur in Richtung Sozialabbau, Leistungskürzungen und Belastung der kleinen Leute und es werden zu wenig Perspektiven für neue Jobs und für mehr Ausbildung geboten."

SPD-Fraktionsvize Michael Müller hat Bundeskanzler Schröder gegen Kritik am Reformkurs in Schutz genommen. "Unter dem Zustand der SPD leidet der Kanzler wie ein Hund", sagte Müller der "Welt" (Mittwoch). Schröder sei viel enger mit der Partei verbunden, als öffentlich deutlich werde. Müller trat damit Kritik entgegen, Schröder sei nur noch daran interessiert, als Reformkanzler in die Geschichtsbücher einzugehen.

Müller griff zugleich die Grünen an: "Dass einige Grüne nun ausgerechnet bei den Arbeitsmarktreformen auf Distanz gehen, ist nicht fair." Bei den Debatten hätten sie zum Teil für weit tiefere Einschnitte plädiert.

AP · DPA · Reuters
DPA/AP/Reuters