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Interview mit Werner Schulz "Nicht mehr nur Birkenstock-Partei"

Es ist eines der sensationellsten Comebacks im politischen Berlin: Der grüne Querkopf Werner Schulz ergatterte mit einer furiosen Parteitagsrede einen aussichtsreichen Listenplatz für die Europawahl. Im Interview mit stern.de spricht er offen über seinen Zwist mit Joschka Fischer - und warum ihm rot-rot-grüne Gedankenspiele fremd sind.
Von Sebastian Christ und Hans Peter Schütz

Herr Schulz, sie haben sich quasi aus dem Nichts, also mit nur einer Rede, eine Kandidatur zur Europawahl erkämpft. Ist Redekunst eine unschlagbare politische Waffe?

Unter Umständen. Aber sie muss dann sein wie Rockmusik. Es muss rocken, Resonanz erzeugen. Sie müssen ein Gefühl ansprechen, das bei den anderen vorhanden ist. Mir ist das zum Glück gelegentlich gelungen.

Sie gelten als Querkopf, zumindest als "freier Radikaler". Freut sich auch die Parteiführung über ihr Comeback?

Mich einen "Kopf" zu nennen, ist ja nicht schlecht. Dass ich an der Basis einen ganz guten Stand habe, bekam ich häufig zu spüren. Aber auch in der Parteiführung waren die Reaktionen überwiegend freundlich. Für mich ist das eine Art Versöhnung. Man könnte auch sagen: ein innerer Parteitag.

Hat Sie, nach vier Jahren ohne Mandat, der schiere Ehrgeiz zu dieser Kandidatur getrieben?

Das ist nicht nur eine persönliche Sache. Ich glaube, dass vor allem in der Osteuropapolitik mehr getan werden muss.

Warum?

In Westeuropa haben sich die Länder versöhnt, es herrscht ein Grundvertrauen zwischen Deutschland und seinen Nachbarn, niemand kann sich ernsthaft vorstellen noch mal Krieg gegeneinander zuführen - in Osteuropa gibt es das nicht. Sie finden dort eine ganze Reihe von alten, eingefrorenen Konflikten, das Misstrauen ist riesig. Der Krieg zwischen Russland und Georgien hat alle alten Ängste wieder geweckt.

Daran war Wladimir Putin nicht unbeteiligt. Ein "lupenreiner Demokrat", wie ihn Ex- Kanzler Gerhard Schröder bezeichnet hat.

Da sind wir unterschiedlicher Meinung. Man muss schon mit der Lupe danach suchen, um bei Putin Demokratie zu finden. Realpolitik bedeutet jedoch, mit solchen Leuten zu reden. Man muss ihnen die Meinung sagen. Der Massenmörder Stalin ist wieder auf Platz drei in der Beliebtheitsliste der historischen Figuren Russlands, kritische Journalisten werden auf offener Straße abgeknallt ohne das die Staatsmacht darauf reagiert. Wir müssen unmissverständlich klar machen: So etwas dulden wir nicht im europäischen Haus.

Zur Person

Werner Schulz wurde 1950 in Zwickau geboren. Zu DDR-Zeiten war er schon früh in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Im Jahr 1989 gehörte er zu den Mitbegründern des "Neuen Forums", das 1991 im "Bündnis 90" aufging. Von 1990 bis 2005 saß er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, zwischen 1998 und 2005 war Schulz wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion. Als Gerhard Schröder im Juli 2005 den Bundestag auflösen ließ, reichte Schulz Verfassungsklage ein - ohne Erfolg. Seit der Bundestags-Neuwahl im September 2005 ist er ohne Mandat. Auf dem Parteitag der Grünen Ende Januar hielt er eine furiose Rede - und schaffte so ein politisches Comeback. Die Delegierten wählten ihn auf einen aussichtsreichen Listenplatz für die Europawahl.

Sie wollen "bündnisgrüne Europapolitik" machen. Was genau ist das denn?

Wir sollten zum Beispiel den Kontakt zu den Nichtregierungsorganisationen im Osten verstärken. Es gibt viele, die in Russland einen sehr schweren Stand haben und denen wir mit helfen könnten. Ich bringe da besondere Erfahrungen mit: Ich weiß, wie viel es wert ist, wenn man vom Westen unterstützt wird. Als wir noch in der DDR-Opposition saßen, kamen 1983 erstmal westdeutsche Grüne zu uns: Petra Kelly, Gert Bastian, Lukas Beckmann, Otto Schily. Seitdem gab es feste Kontakte, die Grünen haben uns unterstützt - materiell und politisch. Wir wussten, dass wir Freunde haben. Es gab eine Öffentlichkeit. Es war nicht mehr möglich, uns einfach verschwinden zu lassen. So müssen wir das jetzt auch in Brüssel machen und betonen: Da sind unabhängige Journalisten von der Nowaja Gaseta, denen gilt unsere Aufmerksamkeit, unsere Schutzzusage.

Sie galten bislang als politischer Einzelgänger. Wollen sie das weiterhin kultivieren?

Ich war nicht glücklich damit. Nachdem ich mit Joschka Fischer über Kreuz lag, stand ich am Rand. Nicht, weil ich mir in der Pose des Einzelkämpfer gefiel, sondern weil ich nicht nur Erfüllungsgehilfe sein wollte und den Anspruch vertrat mitzusprechen. Das Problem zwischen mir und Fischer war, dass ich darauf bestand, dass die politische Willensbildung Sache der Fraktion sein sollte - und nicht per Order von oben kommen darf. Fischer aber hatte während unserer Regierungszeit keine Lust, sich verständigen zu müssen. Und ich war nicht bereit, den stummen Schleppenträger zu spielen.

Die Lage eskalierte, als sie sich in einer Parlamentsrede 2005 gegen Gerhard Schröders Beschluss stellten, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen abzuhalten. Sie sagten sinngemäß, das sei ein Vorgehen wie in der DDR-Volkskammer.

Ich wollte dem Bundeskanzler sagen, dass es so nicht geht. Dass man sich nicht aus der Verantwortung schleichen kann, wenn man eine groß angelegte Reformpolitik eingeleitet hat, die enorme Probleme aufwarf. Da kann man nicht kneifen und so tun, als ob hätte man keine Mehrheit mehr und das Theater des „gefühlten Misstrauens“ inszenieren, um dann kurze Zeit später ins lukrative Gasprom-Geschäft einzusteigen, was schon damals absehbar war.

Sie haben auch ihre Parteifreunde gescholten und sie "Lemminge" genannt, weil sie damals Gerhard Schröder folgten.

Sie müssen sich das mal vorstellen! Ich sitze vor dem Fernseher und da sagt mir der SPD-Parteivorsitzende Müntefering: Wir haben beschlossen, dem SPD-Parteivorstand morgen vorzuschlagen, Neuwahlen durchzuführen. Da dachte ich mir: Hä, habe ich das jetzt richtig verstanden? Was haben die beschlossen? Der SPD-Vorsitzende und der Bundeskanzler wollen das Parlament auflösen und Neuwahlen durchführen? Sind wir als Parlament gar nicht mehr gefragt? Und dann kommt am Montag eine Erklärung des Grünen-Vorstandes, der diesen Beschluss begrüßt. Da hätte man sagen müssen: Mit uns war das nicht abgestimmt, wir fordern die Einberufung des Koalitionsausschusses. Solche Piratenakte…

… des Oberpiraten Joschka Fischer…

… deswegen sage ich ja: Lemminge. Ich fand, dass wir damals ein so verdammt kleinlauter Koalitionspartner waren. Der kleinlauteste, seit es Koalitionen gibt. Schauen Sie doch mal, was die FDP gemacht hat. Lambsdorff war in der Lage, eine Koalition zu beenden und den Koalitionspartner zu wechseln. Die haben immer deutlich gemacht, wo der Hammer hängt. Bei uns hat der Kellner Joschka alles mit seinem Koch Gerhard geregelt. Das fand ich unglaublich. Das darf sich im Umgang mit Koalitionspartnern nicht mehr wiederholen, egal wie sie heißen.

Sind die Grünen heute nicht eine moderne, grün angepinselte Variante der FDP?

Grün angepinselt? Das klingt abwertend, als sei etwas anderes darunter. Wir wehren uns nicht gegen die urbanen, modernen Wählerschichten. Wir sind eine ökologische Partei mit liberaler Grundhaltung und sozialem Engagement. Menschen, deren Politik bessere Lebensbedingungen für alle anstrebt, die bereit sind, von ihrem Wohlstand abzugeben. Für andere mit zu sorgen. Wir sind nicht mehr nur die Birkenstock-Partei von der Landkommune.

Macht also das soziale Engagement den Unterschied zur FDP?

Es unterscheidet uns schon Etliches. Die FDP ist sehr elitär. Ich habe keine Feindbilder in der Politik, aber ich würde mich in dieser Partei nicht wohl fühlen. Es ist die Partei eines neoliberalen Mittelstandes. Leute die den Grundsatz pflegen, wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.

Immerhin wählt sie die Zahnarztgattin.

Sicherlich nicht alle. Aber das ist ein interessantes Phänomen. Wo der Wunsch nach Empathie stärker ausgeprägt ist, sind die Grünen gefragt.

In ihrer Parteitagsrede haben von "neoliberale Gespenster in Europa" gesprochen. Was heißt das?

Ich mag Wortspiele, die gewisse Aussagen verdichten. Karl Marx hat von einem "Gespenst" geschrieben, das in Europa umgehe. Er meinte damit den Kommunismus. Ich habe daraus ein "neoliberales Gespenst" gemacht, dass durch Europa geistert, nachdem sich das kommunistische als grausamer Spuk erwiesen hat. Gemeint ist damit die bedingungslose Freiheit des Marktes und des Kapitals. Wo das hinführt, erleben wir ja im Moment. Ich wehre mich andererseits gegen einen kruden Neosozialismus, glaube allerdings, dass der Markt ökologisch-soziale Leitplanken braucht.

Außerdem haben sie die "Schäubligkeiten" der CDU angeprangert.

Wir müssen aufpassen, dass wir vor lauter Angst nicht die Freiheit verlieren. Ein Terrorist kann gar nicht so viel Schaden anrichten wie ein panisch reagierender Gesetzgeber. Der schon im Vorgriff darauf, was alles passieren könnte, Rechte einschränkt, so dass wir das einschränken, was wir eigentlich verteidigen wollen: unsere Freiheit. Wolfgang Schäuble hat persönliche Erfahrungen machen müssen, er ist selber Anschlagsopfer geworden. Vielleicht ist er auch deswegen dünnhäutig und sensibel. Aber ich glaube, er übertreibt es.

Nun will Schäuble verhindern, dass Deutschland nach der Schließung von Guantanamo Häftlinge aufnimmt. Wo stehen Sie in dieser Frage?

Ich habe noch keine abschließende Position. Aber in erster Linie sind die USA in der Pflicht, dieses Problem zu lösen. Wenn wir jetzt schon diskutieren, wie viele ehemalige Häftlinge wir aufnehmen könnten, ist das nicht richtig. Damit entlasten wir womöglich voreilig die Amerikaner von der Verantwortung für ein Problem, das sie selbst so geschaffen haben.

Sie sind in Zwickau geboren, waren zu DDR-Zeiten in der Friedensbewegung aktiv und haben das Neue Forum und Bündnis 90 in Ostdeutschland mitbegründet. Warum ist Ihre Partei gerade in neuen Bundesländern so schwach?

Wir sind nach wie vor nur wenige und kämpfen gegen zweieinhalb Volksparteien. Eine ist die Linke, die überall zwischen 25 und 30 Prozent holt. Die andere ist die CDU. Und sie haben eine SPD, die zumindest in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern relativ stark ist. Erstaunlicherweise hat es die Linke geschafft, den Mief der SED zu kaschieren, obwohl sie noch immer von Altkadern getragen wird. Sie steht nun als quasi neue Partei mit rot-grünen Farbtupfern da. Viel Fassade, aber die ist ja nicht nur beim Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses gefragt.

Also volle Kraft gegen die Linkspartei?

Nein, ich glaube, wir konkurrieren nicht einmal um das gleiche Klientel. Wir müssen auf die kommenden Generationen setzen. Wir sind ja nicht nur die Partei der nachwachsenden Rohstoffe. Es entstehen nach und nach neue Milieus im Osten - vor allem in Städten wie Leipzig, Erfurt, Jena. Junge Leute, die zum Studium dahin hingehen, auch aus dem Westen. Andere, die so jung sind, dass sie die DDR nicht erlebt haben. Wir haben heute zweistellige Ergebnisse in Dresden und gute Resultate in Erfurt. Das ist etwas, worauf wir bauen müssen.

Sind rot-rot-grüne Bündnisse trotzdem eine Option?

Das ist kein Modell für die Zukunft, und daher mit höchster Vorsicht zu sehen. Wir hatten 1994 ja schon mal in Sachsen-Anhalt eine rot-grüne Minderheitsregierung, die von der Linkspartei toleriert wurde - und das war klar zu unserem Nachteil. Bei der nächsten Wahl sind wir aus dem Parlament rausgeflogen. Insofern ist es für die Grünen kein Schaden, dass das hessische Experiment schief ging.

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