Kölner Keupstraße nach Birlikte-Festival Feiern hilft!

Zwei Wochen nach dem großen Birlikte-Fest in Köln, das an den Nagelbombenanschlag der NSU erinnerte, verspüren die Bewohner der Keupstraße eine neue, nachhaltige deutsch-türkische Freundschaft.

In der gleißenden Junisonne wirkt die Keupstraße noch stärker so, wie die Kölner sie gern sehen: als rheinischer Orient. Türkische Popmusik wummert aus dem Plattenladen "Music Gala". Mädchen in bunten Kleider kichern vor dem Schaufenster der Feinkonditorei Hasan Özdag, wo es zuckerschwere Torten für jeden Anlass gibt: Hochzeit, Beschneidung, Scheidung. Auf den Bürgersteigen sitzen Männer vor kniehohen Holztischen, trinken Tee, diskutieren oder dösen. Andere verschwinden durch eine Toreinfahrt, um in der Ömer-ul-Faruk-Moschee am Gebet teilzunehmen. Die Atmosphäre ist entspannt wie nie zuvor. Das liegt an "Birlikte - Zusammenstehen", sagen die Bewohner, dem Kulturfest, das zu Pfingsten 120.000 Menschen in ihr Viertel lockte, um gemeinsam mit ihnen dem zehnten Jahrestag des feigen Nagelbombenanschlags in ihrer Straße zu gedenken.

"Hier ist eine Superatmosphäre zurückgeblieben", sagt Meral Şahin. Die Frau mit dem gelben Kopftuch kniet vor einem blitzblanken Mercedes, der vor ihrem Dekorationsgeschäft parkt, und spannt in Turbotempo weißen Tüll über die Motorhaube. Es ist Hochsaison für Heiratswillige, ihr Auftragsbuch quillt über, sie findet kaum Zeit zum Durchatmen. Und trotzdem wirkt auch sie entlastet: "Jetzt, nach Birlikte, kehrt das Vertrauen langsam wieder zurück. Die Herzen der Menschen öffnen sich." Sie ist nah bei ihren Landsleuten, eine Instanz in der türkischen Männerwelt, steht der "Interessensgemeinschaft Keupstraße" vor, die für eine bessere Zukunft kämpft.

Unterstützen Sie Birlikte

Obwohl alle Künstler auf Gage verzichteten, kostete das Fest die Veranstalter rund 600.000 Euro. Unterstützen kann man das Projekt ganz einfach per Telefon: "Eine SMS mit dem Stichwort ZUSAMMEN an 81190 senden - und schon hat man 5 Euro für den guten Zweck gespendet", sagt Mitorganisator und stern-Reporter Uli Hauser. T-Shirts gegen die rechte Gewalt gibt es im Shop: www.birlikte.spreadshirt.de

Der beschämte Herr Gauck

Ein Stück dieser besseren Zukunft hat ihnen Joachim Gauck gebracht. Am Pfingstsonntag schnüffelten sich gerade Spürhunde durch das Restaurant Mevlana, das der Bundespräsident bei seinem Gang durch die Keupstraße besuchen wollte, als Meral Şahin die Besitzerin fragte: "Was wirst Du Herrn Gauck eigentlich sagen?" Die alte Frau rang nach Worten. Dann antwortete sie: "Ich sage ihm, wie wahnsinnig stolz ich bin, dass er gerade mich besucht. Jetzt fühle ich mich hier endlich zu Hause." Zuhause unter Deutschen. "Ihr seid nicht allein", hat Gauck ihnen zugerufen. Seine Worte waren so wichtig für die Bewohner, weil seine Scham und seine Solidarität ihnen so ehrlich erschienen.

Sich mitten in Deutschland nicht mehr allein fühlen zu müssen, das hatte sich die grundfröhliche Meral Şahin immer gewünscht. Vor Birlikte konnte sie nicht mehr wirklich daran glauben. Diese vielen Jahre der Demütigung! Die Bewohner der Keupstraße wurden gleich zweimal Opfer, als ihnen am 9. Juni 2004 um 15.56 Uhr die glühenden Tischlernägel mit 770 Stundenkilometern um die Ohren flogen: Zum einen erlitten 22 Verwandte, Freunde und Bekannte teils schwere Verletzungen – wie durch ein Wunder starb niemand. Zum anderen lastete sieben Jahre lang der Generalverdacht auf ihnen, auch Täter zu sein. Sie wurden verhört und abgehört. Die Polizei ging von einem Mordanschlag im türkischen Milieu aus. Erst nach einer Serie von Behördenschlampereien und Fahndungspannen kamen die Ermittler 2011 den wahren Verbrechern, den NSU-Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, auf die Spur.

Vom Ende der Ungewissheit

Im Friseurladen Özcan herrscht Hochbetrieb. Schick machen für die Hochzeitsfeiern. Özcan Yildirim und seine Angestellten verpassen den männlichen Kunden Pottschnitte im Minutentakt: Ein bisschen Deckhaar stehen lassen, den Rest auf Stoppellänge kürzen, das ist gerade angesagt. Im Fernseher über den Waschbecken läuft eine türkische Spielshow, wo Kandidaten Bierkrüge über Theken rutschen lassen. Yildirim legt die Schere beiseite und tritt vor die Tür. Hier hatten die Neonazis das Fahrrad mit der Bombe abgestellt. Als sie den Fernauslöser drückten, lag sein Lebenstraum binnen Sekunden in Trümmern. Dazwischen sein Bruder Hasan, blutüberströmt. Er hat einige der diabolischen Nägel in der Wand gelassen und übertapeziert. Reliquien des Schmerzes. 45.000 Euro musste er in die Renovierung seines Geschäfts stecken. Dafür hat er bislang keinen Cent Zuschuss aus irgendeinem Hilfstopf bekommen.

Nach dem Anschlag hatte sich Yildirim eingeigelt, sagen die Leute. Er wurde verdächtigt, weil er bei dem Attentat nicht im Laden war. Seine Deutschkenntnisse stagnierten seitdem. Er fühlt sich noch heute unsicher, ob er für seine Gefühle die richtigen deutschen Worte findet. Deshalb spricht er lieber Türkisch und ruft seinen 16-jährigen Sohn Umutcan als Übersetzer herbei. "Ich habe nicht geglaubt, dass so viele Leute zu Birlikte kommen würden", sagt er. "Ich fühle mich jetzt tatsächlich sicherer." Viele neue Kunden, auch Deutsche, seien in den vergangenen Tagen in seinen Laden gekommen. Er kann wieder lachen: "Die haben mich wohl im Fernsehen gesehen." Zehn Jahre lang war der 9. Juni für ihn ein Datum des Schreckens: "Jetzt, nach Birlikte, wollen wir ihn als tollen Tag in Erinnerung behalten." Dann muss er schnell wieder an seinen Arbeitsplatz. Die Kunden werden ungeduldig.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Schauspiel mit Laien

Gleich um die Ecke der Keupstraße beginnt Kölns Fernseh- und Theaterwelt. In den alten Fabrikgebäuden werden unter anderem die "Heute Show" produziert, "TV Total" und früher die "Harald Schmidt Show". Im Carlswerk befindet sich die Ausweichspielstätte des Schauspiels Köln, dessen Gebäude in der Innenstadt renoviert wird. Hier hat der Dramaturg Thomas Laue die Keupstraße auf die Bühne gebracht. Das Stück, geschrieben von Autor Nuran David Calis, heißt "Die Lücke" und ist ein beeindruckendes Zeugnis des Unverständnisses und der Sprachlosigkeit zwischen Menschen, die seit Jahrzehnten in einer Stadt leben. Die Kulisse: ein weißer Würfel, dazwischen ein Graben, auf der einen Seite Profi-Schauspieler, die die deutsche Mittelschicht mit ihrer subtilen bürgerlichen Fremdenfeindlichkeit verkörpern. Auf der anderen Seite Laienspieler der Keupstraße mit ihren Problemen, in der Mehrheitsgesellschaft anzukommen. Es wird hitzig diskutiert zwischen den Parallelwelten, und das Publikum kommt nicht umher, irgendwann Position zu beziehen. Das Stück fasziniert, die nächsten Vorstellungen sind ausverkauft.

Das Schauspiel Köln ist, wie auch der stern mit seiner Aktion "Mut gegen rechte Gewalt", einer der Veranstalter von Birlikte. Nicht alle in der Keupstraße waren von Beginn an Feuer und Flamme für das Projekt, sagt Laue: "Manche meinten auch, man solle das Geld besser für eine neue Straßenbeleuchtung ausgeben." Aber dann kam der schönste Moment, wie er sagt, die Generalprobe des Stücks mit den Keupstraßen-Bewohnern: "Die Zuschauer waren totenstill, viele haben geweint." Diese Nähe setzte sich bei den rund 150 Einzelveranstaltungen fort. Man lernte sich neu kennen. Die Deutschen merkten mit Staunen, dass die Keupstraße kein Hort des Verbrechens und Drogenumschlagplatz mehr ist wie in den 80-er Jahren, sondern Heimat von rund 120 sehr erfolgreichen Geschäftsleuten. "Wir haben hier kein soziales Problem mehr", sagt Laue, "sondern eine neue Bürgerschicht."

"Ein Kopftuch ist keine geistige Behinderung!"

Laue leert noch schnell seine Cola, die er im Schauspiel-Restaurant "Werkshase" bestellt hat, und geht noch einmal rüber in die Keupstraße. Er will reden mit den Menschen: "Wir sind noch nicht fertig, unsere Arbeit geht weiter." Der Belikte-Geist müsse wach gehalten werden, um die Grundfrage unserer multikulturellen Gesellschaft zu beantworten: "Wie sieht der Ort aus, an dem wir gemeinsam leben wollen und müssen?"

Er betritt den Juwelierladen von Muhammed Özkan, gleich gegenüber dem Friseursalon. Die Auslagen sind voll von glitzerndem Schmuck, auf der Theke steht ein iMac. Vor zehn Jahren wurde Ayfer, die Tochter des Vorbesitzers, durch die Druckwelle der Bombe an die Wand geschleudert, wo heute Özkans Firmenschild "Marka Istanbul" hängt. Er ist 28 Jahre alt und verkörpert die neue Keupstraßen-Generation. Er ist in Deutschland geboren, seine Eltern sind in Deutschland geboren, und trotzdem werden sie noch immer oft wie Fremde behandelt. Schon in der Schule machte er diese Erfahrung: "Nur weil meine Mutter ein Kopftuch trug, fragte mich der Lehrer, ob ich für sie übersetzen könne. Dabei sprach sie sehr gut Deutsch. Leute, ein Kopftuch ist keine geistige Behinderung!" Vor Kurzem war er mit seiner Schwester, die ebenfalls Kopftuch trägt, in einem großen Kölner Schuhgeschäft. Da kam ein älterer Mann auf sie zu und trat ihr absichtlich auf den Fuß: "Nimm deine Stinkefüße weg", fauchte er. Özkan sagt: "Das Schlimmste war, dass die Mitarbeiter des Schuhgeschäfts diesen Vorfall einfach ignoriert haben."

Schwitzende Neonazis

Hat Birlikte auch bei ihm ein neues, nachhaltiges Vertrauen geschaffen? "Es ist eindeutig eine Tür zum Herzen aufgegangen", sagt Özkan. "Aber so einfach ist das nicht mit dem Vertrauen." Da müssten sich beide Seiten, auch die "türkische Community", wie er betont, noch mehr engagieren: "Wir müssen die Fehler erkennen, wie wir gegenseitig machen." Das Schauspiel könne helfen und auch die Medien, wenn sie endlich mal aus der Keupstraße berichten würden, ohne dass ein Anschlag oder ein Straßenfest den traurigen oder fröhlichen Anlass dazu böten.

Es ist Nachmittag, im Deko-Geschäft von Meral Şahin drängt sich die Kundschaft. Eine Frau aus Leverkusen hat ein Seidenkissen für ihren Enkel erworben. Die Ladenchefin greift zur Heißklebepistole und schreibt in feinsten Lettern "Luca" mit dem klebrigen Strahl darauf. Dann wirft sie eine Handvoll silbernen Glitter darüber und pustet den Überschuss weg. Die Kundin ist begeistert.

"Wir müssen weitermachen", sagt auch Meral Şahin. "Es ist noch nicht vorbei." Als sie bei über 30 Grad Hitze auf der großen Bühne der Birlikte-Kundgebung stand, neben dem Bundespräsidenten und dem Oberbürgermeister, neben den großen Künstlern wie Wolfgang Niedecken und Peter Maffay, die alle umsonst auftreten wollten für ihre Keupstraße, da sah sie direkt vor der Bühne einen alten Bekannten: einen Neonazi aus Köln-Kalk, der ihr schon auf viele Veranstaltungen folgte, um sie zu attackieren. Er lehnte in einer schweren braunen Jacke über der Absperrung und fixierte sie. "Wir starrten uns an, es kam mir vor wie zwei Stunden, dabei waren es vielleicht 15 Sekunden", sagt Meral Şahin. "Er schwitzte stark, ich dachte, was hat der unter der Jacke, was will der hier?" Angst stieg in ihr auf, dass es gleich wieder knallt. Dann sah sie die 120.000, spürte das Birlikte, das Zusammenstehen. Und rief ins Mikrofon: "Diese Sache ist Herzblut, ist Menschlichkeit und ein Zeichen gegen Rassismus. Ich möchte euch alle hier umarmen und Euch das Gefühl geben, wie herzlich ihr alle eingeladen und willkommen auf dieser Straße seid."

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