Dieser Abend wirft unendlich viele Fragen auf. Weshalb hat die Union so eine bittere Niederlage erlitten? Wie ist der scheinbar widersinnige Auftritt Gerhard Schröders in der Elefantenrunde zu erklären? Weshalb lagen die Demoskopen so falsch? Die wichtigste Frage aber lautet: Wer, um Himmels Willen, soll dieses Land regieren? Spielt man sämtliche Varianten durch, kann es nur zwei Antworten geben: Entweder geht die SPD als Juniorpartner in eine große Koalition unter Führung von Angela Merkel - oder es muss noch einmal gewählt werden.
Das Ergebnis sorgt für politisches Schauspiel
Dieses Wahlergebnis hat seinen Reiz in der Sensation. Es ist eine Sensation, dass Angela Merkel, die im Juni und Juli so hoch geflogen war, nun so jäh und so tief gestürzt ist. Es ist eine Sensation, dass der totgesagte Kanzler Gerhard Schröder noch einmal so triumphieren durfte. Es ist eine Sensation, dass die versammelte Meinungsforscher-Elite von Forsa, der Forschungsgruppe Wahlen, Infratest Dimap und Allensbach mit ihren Vorhersagen so weit neben dem tatsächlichen Ergebnis liegen. Und es ist eine Sensation, dass es so viele denkbare Regierungskoalitionen gibt. All diese Sensationen sorgen für beste Unterhaltung, für Dramen und Spannung – und für ungläubiges Kopfschütteln. Dieses Ergebnis bereitet die Bühne für ein in dieser Republik nie dagewesenes politisches Schauspiel.
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Gegen die Union sollte nicht regiert werden
Lustig ist das alles. Fraglos. Nur gut ist es nicht, denn per Sensation lässt sich denkbar schlecht regieren. Dabei hatte gerade die Schrödersche Neuwahl-Proklamation am 22. Mai deutlich gemacht, dass das Land in seiner gegenwärtigen Verfassung eine Regierung benötigt, die weiß, was sie will und die vor allem auch die Mehrheiten hat – innerhalb der eigenen Partei oder Koalition und in den Parlamenten, in Bundestag und Bundesrat. Wenn man ehrlich ist, bedeutet das, dass gegen die Union schon allein deshalb nicht regiert werden sollte, weil von ihr geführte Länder die Mehrheit im Bundesrat haben.
Von Schwampel und Jamaika
Nachdem Schwarz-Gelb als Möglichkeit wegfällt, gibt es zwei Varianten, die eine Regierungsbeteiligung der Union mit sich bringen. Die erste ist die "Schwampel", die schwarze Ampel - ein Bündnis von Union, FDP und Grünen. Programmatisch dürfte es den schwarz-gelben Partnern nicht einmal schwer fallen, die Grünen ins Boot zu holen. Bei der Reform des Gesundheitssystems, beim Atom-Ausstieg, auch bei den Steuern sind Kompromiss-Linien vorstellbar. Zweifelhaft ist nur, ob die jeweiligen Parteispitzen und die jeweilige Parteien eine Jamaika-Koalition mittragen würden. Bis vor kurzem hieß es etwa, Joschka Fischer und Guido Westerwelle hätten Schwierigkeiten, sich im selben Raum aufzuhalten. Wie eine Zusammenarbeit der beiden unter einer Kanzlerin Merkel aussehen könnte, ist kaum vorstellbar. Darüber hinaus müsste Fischer mit massivem Widerstand der eigenen Basis rechnen. Zwar sind die Grünen tatsächlich dabei, sich langfristig auch auf eine schwarz-grüne Option vorzubereiten. Deren plötzliche Umsetzung, zumal kombiniert mit dem Erzfeind FDP, dürfte die grüne Basis jedoch kaum mittragen. Noch erscheint er zu breit, der kulturelle Graben zwischen Schwarz-Gelb und Grün.
Große Koalition mit lädierter Merkel
Größere Aussichten auf Erfolg dürfte schon eine große Koalition unter Führung der Union haben. Ungeachtet des polternden Vorab-Vetos Gerhard Schröders wäre Schwarz-Rot eine machbare, wenn auch keine tolle Variante. Die schwer angeschlagene Angela Merkel wäre Kanzlerin, Peer Steinbrück wohl Vizekanzler für die SPD - aber in einer Juniorrolle. Noch vor wenigen Tagen erschien dies für die SPD sogar das bestmögliche Ergebnis, Steinbrück kokettierte öffentlich mit dieser Variante. Die große Koalition dürfte lahmer sein als eine schwarz-gelbe Koalition es gewesen wäre - aber immer noch handlungsfähiger als jedwede Ampel-Kombi. Dass sie die SPD vor eine Zerreißprobe stellen würde, darüber wird schon länger spekuliert. Neu ist nun, dass Angela Merkel so angeschlagen in das Amt der Kanzlerin gehen würde wie wohl kein Regierungschef vor ihr. Gleichzeitig hätte sie es mit einer unerwartet breitbrüstigen SPD zu tun, die sich allerdings zwangsläufig von Schröder verabschieden müsste.
SPD ohne klares Programm
Die große Koalition wäre in jedem Fall besser als die klassische Ampel-Kombination. Rot-Gelb-Grün würde nicht nur am Westerwelle-Fischer-Dilemma leiden, sondern auch an einer programmatischen Schwäche. Wenn man ehrlich ist, dann ist die SPD in diesem Wahlkampf zwar erfolgreich gegen Kirchhof zu Felde gezogen, eine eigenes, realistisches Programm hat sie jedoch nicht vorgelegt. Das SPD-Manifest war eine unbezahlbare Wunschliste. Wo es nach dieser Variante unter SPD-Führung hingehen könnte, ist mehr als unklar. Zudem säße in diesem Fall die Union über den Bundesrat de facto auch noch am Kabinettstisch. Effektiv wäre das nicht, sondern eine Verkomplizierung der bisherigen rot-grünen Kombination. Angesichts dieses Ergebnisses und dieser Gemengelage erscheint eine große Koalition unter Führung von Merkel die einzige halbwegs sinnvolle Alternative.
Union versiebt Elfzentimeter
Das alles sind ernüchternde Ergebnisse. Dazu kommt die geradezu erschreckende Erkenntnis, dass die Union so schwach ist, dass sie selbst in der für sie denkbar günstigsten Situation den Wähler nicht von sich hat überzeugen können. Es war kein Elfmeter, den sie in den letzten Monaten versiebt hat, es war ein Elfzentimeter. De facto haben die Wähler ihr das Misstrauen ausgesprochen, bevor sie überhaupt am Regieren war. Nicht alles davon ist Angela Merkel anzulasten. Für die Zweitstimmenverluste an die FDP und für die Ost-Schelte Edmund Stoibers konnte sie nichts. Aber den zentralen strategischen Fehler - die Nominierung Paul Kirchhofs zum Finanz-Experten - muss sie auf ihre Kappe nehmen, auch das anschließende Hickhack um den Sauerländer Friedrich Merz. Zur Strafe ist Merkel nun verwundbarer geworden. In der Union hat sie an Macht verloren, geliebt worden ist sie ohnehin nie.

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Neuwahlen als zweitbeste Lösung
Die Chancen stehen derzeit schlecht, dass die Parteien mit diesem Ergebnis eine starke, handlungsfähige Regierung hervorbringen werden. Aufgeben darf man die Hoffnung jedoch nicht. Die vergangenen Wochen haben das politische Berlin gelehrt, dass im Prinzip alles möglich ist. Wenn die Parteien bei der Regierungsbildung versagen, wären deshalb auch erneute Wahlen kein Beinbruch, sondern vielleicht sogar die zweitbeste Lösung nach der großen Koalition.