Es ist nicht zu hören, was Philipp Rösler sagt, aber er sieht verkrampft aus. Auf der Fernseh-Leinwand links neben der Bühne ist zu sehen, wie der Liberalen-Chef gerade seine Analyse zum Sonntagabend abliefert. Doch die angeheiterten Genossen hier in der Düsseldorfer Hafendisko nehmen ihn nur als Kontrastbild wahr – zu Hannelore Kraft, die zeitgleich auf die Bühne springt. Die Live-Musiker von Zeitsprung spielen gerade den R&B-Klassiker "Hit the Road Jack", die Siegerin des Abends, helles Jackett, lila Kleid, stimmt mit ein. "Hit the Road", "Hau ab" – eine Botschaft, die ihr unterlegener CDU-Konkurrent zu diesem Zeitpunkt längst beherzigt hat: Norbert Röttgen gab nach dem 26-Prozent-Debakel sofort den Vorsitz des Landesverbandes ab.
Natürlich ist das ein Jubelauftritt, wie ihn Politiker üblicherweise feiern, wenn sie Wahlen gewinnen– und doch zeigt diese Momentaufnahme, was Hannelore Kraft in den vergangenen Monaten gelungen ist. Die Ministerpräsidentin hat diese Landtagswahl haushoch gewonnen und dabei weit mehr mit Emotionen als mit Argumenten gepunktet. Die Demoskopen sagen: Die Nordrhein-Westfalen finden Kraft sympathisch und glaubwürdig. "NRW im Herzen" steht auf dem Bühnenhintergrund, das ist es, was diesen Wahlkampf ausgemacht hat. Die Sozialdemokraten haben jetzt einen Großteil der Kontrolle über das politische Geschehen in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland – und zwar maßgeblich, weil ihre Vorkämpferin die Menschen erreicht hat. Und Röttgen eben nicht
Kraft wurde zur Landesmutti
Der politische Erfolg der 50 Jahre alten Wirtschaftswissenschaftlerin verblüfft. In den Reihen der oft strukturkonservativen Sozis gilt sie als Quereinsteigerin, weil sie erst mit 33 Jahren in die Partei eintrat – und schon fünfeinhalb Jahre später ins Parlament einzog. Zehn Monate später war sie Ministerin. Nach dem SPD-Desaster bei der Wahl 2005 legte Kraft erst richtig los, sie wurde Fraktionschefin, dann Landeschefin, schließlich Frontfrau der Sozialdemokratie an Rhein und Ruhr. Doch die erstaunlichste Metamorphose trug sich dann innerhalb der vergangenen gut 21 Monate zu: Aus der zunächst widerwilligen Chefin einer hoch umstrittenen Minderheitsregierung wurde eine souveräne Landesmutter, die trotz wackelnder Mehrheiten und changierender Koalitionen dem Klein-Klein des Politikalltags zu entkommen scheint.
Praktikum im Altersheim
"So sehen Sieger aus", schallt es durch den Saal, als Hannelore Kraft eine halbe Stunde nach der ersten triumphalen Prognose zum ersten Mal an diesem Wahltag bei ihrer Partei vorbeischaut. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn, beide in grauen Jacketts gekleidet und beide einen halben Kopf größer als Kraft, spendiert sie den Helfern warme Worte und freundliche Gesten. Sie wischt sich mit der Hand kurz über ihre Augen – vielleicht sind da Tränen. Und erzählt von ihrer Mama, die im Wahlkampf als Büglerin wertvolle Unterstützung geleistet habe. So etwas verbreitet sie gerne, denn es befeuert ihre Kernbotschaft: Ich bin normal geblieben. Schon im Wahlkampf hat sie das geschickt gespielt. Vor ein paar Tagen meldete sie dem Parteivolk: "Super Termin in der Kleingartenanlage Tonhüttenweg in Lippstadt. Viele gute Gespräche und klasse Unterstützung!" Zuvor war sie monatelang auf ihrer "Tat-Kraft-Tour" durchs Land gezogen und hatte Kurzpraktika in Altersheimen, Sozialeinrichtungen und High-Tech-Labors gemacht – die Opposition war erzürnt wegen vermeintlicher SPD-Werbung, doch die schönen Bilder einer interessierten Politikerin blieben. Und sie gastierte vor einem Jahr in einer ZDF-Quizshow. Dabei zeigte sie haarsträubende Wissenslücken – doch hängen blieb vor allem das Image der Familienmutter mit ganz gewöhnlichem Lebenswandel. Und so passt es, dass Kraft nun sagt: "Wir haben das Richtige getan, wir haben den Menschen in den Mittelpunkt gestellt." Eine Phrase? Sicherlich. Aber es ist auch was Wahres dran.
"Currywurst ist SPD"
Es stößt sich an diesem Partyabend in Düsseldorf auch niemand daran, dass die traditionsbeladene Partei der deutschen Arbeiterschaft mit einer Phosphatstange gleichgesetzt wird. "Currywurst ist SPD", dieser Plakatspruch war Kulminationspunkt des emotionalen Wahlkampfs. Der fetttriefende Traditions-Imbiss als Wohlfühl-Signal, dazu Werbe-Aufkleber mit Wortspielen wie "Kraftfahrzeug". Da kann man schon verstehen, dass NRW-CDU-Generalsekretär Oliver Wittke über einen "sinnentleerten Wahlkampf" schimpft. Allein: Die Union drang mit ihrer Form der politischen Kritik in den vergangenen zwei Monaten überhaupt nicht durch. Dabei ist das Thema Verschuldung in Nordrhein-Westfalen ein ganz heißes. Die schwerste Krise durchlebte Krafts rot-grüne Minderheitsregierung, als sie vor dem Landesverfassungsgericht 2011 mit ihrem Nachtragshaushalt wegen der zu hohen Neuverschuldung scheiterte. Das Wort "Haushaltsdisziplin" mag aus guten Gründen in Mode sein, Krafts Team pfiff drauf. Die Landesregierung schaffte die Studiengebühren ab und stellte das dritte Kindergartenjahr beitragsfrei – kostspielige Aktionen, die beispielsweise der linken Parteijugend gefallen. NRW-Juso-Chef Veith Lemmen freut sich über die Zusammenarbeit mit Kraft: Sie sei glaubwürdig, weil sie darum kämpfe, dass kein junger Mensch zurückgelassen werde. Dazu passt, dass Kraft selbst aus proletarischen Verhältnissen aufstieg. Biografie und Botschaft, Politik und Emotion – es fällt alles in eins.
Keine Kanzlerkandidatur
Und wenn doch mal Argumente gefragt waren, weil Liberale und Christdemokraten das Finanzierungsgebaren der rot-grünen Regierung attackierten, dann sprach Kraft von "vorbeugender Politik". Ihre Hypothese: Lieber jetzt ein mehr Milliarden in Bildung und Soziales investieren als später höhere Folgekosten zahlen. Dafür bekam sie die Rückendeckung der Wähler. Obwohl der Streit um den Haushalt letztlich der Grund war, weshalb sich der Landtag auflöste und es zu Neuwahlen kam.
"Da hat sie uns was vorgemacht", kommentiert SPD-Parteichef Sigmar Gabriel am Sonntagabend den NRW-Sieg. Kraft selbst sagt, dieses Resultat sei ein "klares Signal nach Berlin". Und doch muss sich dort zunächst niemand Sorgen machen, dass die Düsseldorfer Landesmutter nun auch die Kanzlerkandidatur anstrebt. Diese Rolle lehnt sie ab, sie würde ihr im Moment auch nicht stehen. Ihr Widersacher Norbert Röttgen hat im Wahlkampf unter seinem Nicht-Bekenntnis zu NRW enorm gelitten. Hannelore Kraft hat die Landesmutter dagegen gesetzt, die Kümmerin, so ausgiebig und nachdrücklich, dass ihr das Publikum gefolgt ist. Nun ist sie in NRW und muss bleiben, sonst ihre wichtigste Ressource in Gefahr: Glaubwürdigkeit. Noch auf der Siegesfeier greift Kraft das Mikro und singt den alten Klassiker "New York, New York". Da kann man wohl nichts hineininterpretieren.