Und, wie war's? Na, wie wird es wohl gewesen sein bei einer Mahnwache? Ruhig war's, relativ gesehen jedenfalls. Voll war's, auf den ersten Blick wenigstens. Friedlich war's Und skurril. Das vor allem: skurril. Aber der Reihe nach.
Berlin, das Brandenburger Tor. Wer hier abends vorbeikommt, sieht sehr oft: Demonstranten. Fast jeden Tag. Mal vor dem Tor, mal auf dem Pariser Platz. Mal für etwas, mal gegen. Mal leise, meist laut. Mal mehr, mal weniger. Häufig weniger. Selten mehr als ein paar Hand voll. So wie am Montag, als ein paar verirrte Berliner versuchten, Dresden zu spielen. Da verloren sich wenige hundert "Bägida"-Anhänger auf dem Platz.
Daran gemessen, ist an diesem Dienstag gegen 18 Uhr wirklich extrem viel los. Schon am Vormittag haben Fernsehteams arglosen Touristen aufgelauert und ihnen Mikros unter die triefenden Nasen gehalten. Am Abend drängen sich dann nach der gnädigen Zählung der Polizei 10.000 Menschen auf dem Platz bis hin zur Wilhelmstraße, was im Fernsehen sicher einigermaßen imposant aussieht, wenngleich mickrig im Vergleich zu den Massen, die am Sonntag durch Paris marschierten. Auf der Fanmeilenseite des Brandenburger Tores hätte sich die Menge eher verloren. Da wäre aber auch kein Platz gewesen. Der 17. Juni ist mal wieder Remmidemmi-gesperrt. Die Zelte für die "Fashion Week" sind schon aufgebaut.
Das ganze Kabinett quetscht sich auf die Bühne
Praktisch das ganze Kabinett ist gekommen und quetscht sich auf die Bühne vor dem Tor. Die Kanzlerin. Ihr Vize. Der Bundestagspräsident. Gewerkschafter, Kirchenmenschen aller Konfessionen. Der neue Berliner Bürgermeister. Joachim Gauck. Und sein Vorgänger. Christian Wulff macht den Sarkozy. Er hat sich in der ersten Reihe leicht schräg hinter dem Rednerpult platziert. So dürfte er auf kaum einem Bild fehlen.
Man betrachtet das alles mit gemischten Gefühlen. Ja, es ist gut, dieses Zeichen "für ein weltoffenes und tolerantes Deutschland und für Meinungs- und Religionsfreiheit" zu setzen. Und trotzdem: Es bleibt der schale Beigeschmack, dass hier die Politik eine Veranstaltung gekapert hat, weil sie eine eigene, gemeinsame Großdemonstration nicht hinkriegt, aus welchen Gründen auch immer. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte sie in einem Brief angeregt und die Idee auch gleich der "Bild" gesteckt. Angela Merkel hat sie – deshalb? – ihrem Vizekanzler auf dem Rückflug vom Trauermarsch in Paris wieder ausgeredet.
Luxuskundgebung der Elite
Und noch etwas berührt einen seltsam: Aufgerufen zu dieser Kundgebung hatten die muslimischen Verbände und die Türkische Gemeinde in Deutschland. In Berlin leben geschätzt bis zu 300.000 Menschen moslemischen Glaubens. Gefühlt hat von diesen vielleicht ein Promille auf den Pariser Platz gefunden. Überspitzt formuliert: Bei dieser Mahnwache waren fast mehr Minister als Moslems. Umgekehrt wäre es an diesem Abend besser gewesen.
So ist aus der Mahnwache der Muslime eine Art Luxuskundgebung der gutmeinenden Elite Deutschlands geworden, ausgesprochen für die Ermordeten von Paris, unausgesprochen gegen die Wuttrottel von Dresden. Immerhin, zwischen demonstrierenden Regierenden und demonstrierenden Regierten klafft an diesem Abend in Berlin nicht eine ganz so riesige Lücke wie vor zwei Tagen in Paris – hier stehen die einen gleich auf der Bühne und die anderen unten.
Angela Merkel schweigt
Die Kanzlerin schweigt an diesem Abend, an dem so viele andere reden und die Schweigeminute für die Opfer von Paris nach zehn Sekunden beendet ist. Angela Merkel hat bereits am Morgen, vor der Deutschen Gesellschaft, einen Satz gesagt, der über die Agenturen läuft. "Menschen, die aus Not, die aus Furcht um ihr Leben zu uns kommen, die Schutz suchen, haben ein Anrecht darauf, dass sie hier anständig behandelt werden." Eigentlich ist dieser Satz eine Selbstverständlichkeit. Dass eine deutsche Regierungschefin seinen Inhalt so stark, so demonstrativ betonen muss, ist traurig, nicht nur an diesem Tag. Nein, falsch, es ist nicht traurig. Es ist ein Skandal.
Statt Merkel reden viele andere, sagen viele vernünftige Sätze, die man gerne unterstreichen würde. Manche würde man auch einfach nur gerne: glauben. "Die Terroristen werden nicht siegen", sagt Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime. "Wir werden nicht zulassen, dass unsere Religion von Extremisten missbraucht wird." "Die Terroristen wollten uns spalten", sagt Joachim Gauck, der Bundespräsident. "Erreicht haben sie das Gegenteil." Für manche dieser Sätze gab es sogar ein bisschen mehr als nur verhaltenen Applaus.
Ruhig war's also. Friedlich war's. Einigermaßen voll war's. Es fielen viele richtige Sätze. Und doch… Und doch geht einem, nachdem sich die Mahnwache nach einer knappen Stunde wieder auflöst, Dajas Vers aus Lessings "Nathan" durch den Kopf: "Lasst lächelnd ihr wenigstens einen Wahn, in dem sich Jud' und Christ und Muselmann vereinigen – so einen süßen Wahn!"