Mehrere Forscher warnen angesichts der Ermordung des nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor der Gefahr eines neuen Terrors von Rechts: "Die nächsten 12 bis 18 Monate werden besonders gefährlich", sagte Gideon Botsch dem Berliner "Tagesspiegel". Er ist Leiter der Forschungsstelle für Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam.
Als Risikofaktor nannte Botsch eine von Frust geprägte rechte Szene - unter anderem durch die rückläufige Aufmerksamkeit für Proteste wie bei Pegida. Es sei "wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden". Bis Mitte 2018 hätten diese Gruppen einen politischen Umsturz propagiert. Das habe nicht funktioniert. Dieser Frust könnte nun einige Zellen erneut mobilisieren und diese weiter radikalisieren.
Forscher macht auch die AfD verantwortlich
"Die Feindbilder sind markiert", sagte Botsch, der auch die AfD in diesem Kontext verantwortlich macht. "Da hat die AfD deutlich mitmarkiert, da hat Pegida mitmarkiert. All diese Kräfte, die sich offiziell von Gewalt distanzieren, haben sehr deutlich zur Hetze beigetragen."
Das Demokratiezentrum der Uni Marburg wies darauf hin, dass die rechtsextreme Szene in Hessen genug Gewaltpotenzial für eine solche Tat besitze. "Wenn man die Chronik der Gewaltandrohungen in den letzten Jahren durchgeht, ist das nicht fernliegend", sagte der Leiter Reiner Becker auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. So habe es Drohungen gegen Bürgermeister in der Flüchtlingskrise gegeben und gegen die NSU-Opfer-Anwältin Seda Basay-Yildiz. Und im Fall Lübcke habe "möglicherweise jemand solche Drohungen leider wahrgemacht".
Laut Becker haben sich die rechtsextremen Strukturen verändert. "Im Vergleich zu einigen Jahren zuvor haben wir in Nordhessen und besonders in Kassel keine manifeste Szene mehr." Rechtsextreme Gruppierungen wie der Verein "Sturm 18" und der "Freie Widerstand" wurden verboten oder treten öffentlich nicht mehr in Erscheinung. Die klassische Kameradschaft gebe es immer weniger, lediglich die NPD und Identitäre Bewegung würden noch sichtbar auftreten.
Soziale Netzwerke ersetzen klassische Organisationsformen
"Das hat damit zu tun, dass es dieser Organisationsformen nicht mehr bedarf", sagte Becker. Menschen kommunizierten anders, soziale Netzwerke spielten eine große Rolle. Statt lokaler Vernetzung erlebe man eine hohe Mobilität zu Veranstaltungen mit rechten Anknüpfungspunkten. So komme es zu skurrilen Mischungen, beispielsweise mit der Kampfsport-, Gelbwesten- oder Hooliganszene. "Selbst wenn es sich um einen Einzeltäter handeln sollte, darf man nicht davon ausgehen, dass er völlig isoliert von anderen Personen mit rechtsextremer Einstellung ist", erklärte Becker.
Der Politikwisschenschaftler Hajo Funke sagte der "Passauer Freien Presse": "Das war ein eiskalter Mord an einem deutschen Spitzenpolitiker. Er erinnert sehr stark an den Mord an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel, der der rechtsextremen NSU zugeordnet wird." Sowohl in Kassel als auch in Dortmund gebe es ein dichtes und gewaltbereites neonazistisches Netzwerk. Diese seien auch miteinander verbunden. "Das sind hochgefährliche Netzwerke", so Funke. "Die Bundesanwaltschaft ist inzwischen gut aufgestellt in diesem Bereich und hat Einblicke, die wir nicht haben."
Vor über zwei Wochen war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) auf der Terrasse seines Hauses bei Kassel durch einen Kopfschuss getötet worden. Seit Sonntag sitzt der 45-jährige Stephan E. unter Mordverdacht in Untersuchungshaft. Die Generalbundesanwaltschaft sieht einen rechtsextremistischen Hintergrund der Tat und hat die Ermittlungen übernommen.