Irgendetwas stimmt nicht. Ausgerechnet Olaf Scholz, der sich stets unbeirrbar und zielsicher gibt, scheint nicht ganz bei der Sache zu sein. Beim Westbalkan-Gipfel in Tirana verpasst der Kanzler die Kurve ins albanische Regierungsgebäude, steigt zunächst über eine rote Kordel zwischen zwei Absperrpfosten. Kurze Irritation, dann Drehung nach rechts, zurück in die richtige Spur – und weiter geht’s.
Im Netz wird der Videoschnipsel herumgereicht, wie so oft, wenn Scholz mit Erwartungen bricht. Dabei veranschaulicht die Szene möglicherweise mehr als eine kuriose Nebensächlichkeit.
Scholz absolviert in diesen Tagen ein straffes Programm, ein Termin reiht sich für ihn an den nächsten – und der Kopf des Kanzlers befindet sich offenkundig woanders, jedenfalls nicht auf dem roten Teppich in Tirana. Ein kurzer Blick auf den Kalender des Kanzlers, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Westbalkan-Gipfel in Albanien. Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II in Berlin. Rede beim deutschen Arbeitgebertag. Solidaritätsbesuch in Israel. Gespräche in Ägypten. Virtueller EU-Sondergipfel zum Krieg in Nahost.
Und das ist nur das Programm von Montag und Dienstag.
Olaf Scholz, der oft unsichtbare Kanzler, ist plötzlich überall. Kaum eine Krise, kaum ein Politikfeld lässt Scholz gerade unbearbeitet – so der Eindruck. Als hätte er einen Schalter umgelegt, einen neuen Kurs eingeschlagen: Vom zurückhaltenden Moderator zum emsigen Macher. Der nun die Führung liefert, die von ihm bestellt wurde.
Was ist da los?
Für den Kanzler kommen derzeit viele Krisen zusammen. Los geht’s vergangene Woche. Die Landtagswahlen in Hessen und Bayern geraten zur Denkzettelwahl, fallen verheerend für seine SPD und die Ampel-Koalition insgesamt aus. Die AfD fährt hingegen fabelhafte Ergebnisse ein. Scholz scheint den Warnschuss zu hören.

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Nur drei Tage nach der Schmach zaubert er Eckpunkte für ein Asylpaket aus dem Hut, diskret geschnürt mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Lange Zeit hatten die Koalitionäre über ihre Flüchtlingspolitik gestritten, plötzlich steht die Einigung: Mit zwölf Maßnahmen soll die irreguläre Migration nach Deutschland begrenzt werden. Am selben Tag lädt Scholz zu einer Art Krisengipfel ins Kanzleramt, um mit Opposition und Ländern (auch) in dieser Angelegenheit voranzukommen.
Olaf Scholz: Vom Moderator zum Macher
Es ist wohl nicht übertrieben, von einem Kurswechsel des Kanzlers zu sprechen. Die Migrationsdebatte hatte er bisher gemieden, seiner Innenministerin Nancy Faeser (SPD) das Reiz- und Streitthema der Republik praktisch allein überlassen. Ein Fehler, wie sich herausgestellt hat: Faeser, die als Spitzenkandidatin in die Wiesbadener Staatskanzlei einziehen wollte, kehrt historisch abgestraft und mächtig angezählt ins Berliner Regierungsviertel zurück – stellvertretend für eine SPD, die laut aktuellem RTL-"Trendbarometer" derzeit nur noch 14 Prozent wählen würden, und einen Kanzler, von dem nicht zuletzt seine Genossen mehr Orientierung und Ansagen erwarten. In der Kanzlerfrage hat sich CDU-Chef Friedrich Merz nun vor Scholz geschoben.
Jetzt geht Scholz in die Offensive. Neuerdings drängt er mit deutlichen Ansagen in der Asyl-Debatte an die Öffentlichkeit, betont im Bundestag oder Fernsehen: "Die Zahlen sind zu hoch." Auch beim lahmenden Wohnungsneubau hat sich Scholz eingeschaltet, mit seiner glücklosen Bauministerin Klara Geywitz (SPD) einen 14-Punkte-Plan für mehr Wohnraum präsentiert. Der "Deutschland-Pakt" soll nach dem Spitzengespräch mit Opposition und Ländern im Kanzleramt endlich Form annehmen, um den "Mehltau" über dem gesamten Land abzuschütteln. Nicht zuletzt gilt das Treffen als Rampe für die Ministerpräsidentenkonferenz Anfang November, bei der auch von Scholz Ergebnisse erwartet werden.
Aktuell dürfte den Kanzler aber vor allem der barbarische Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel umtreiben. In einer Regierungserklärung machte er deutlich, wo er Deutschlands Platz nach den Gräueltaten der Terrororganisation Hamas sieht: "Fest an der Seite Israels." Als Zögerer und Zauderer, wie zu Beginn des Ukraine-Kriegs, will der Kanzler dieses Mal nicht wahrgenommen werden – also lässt er auf seine Worte prompt Taten folgen.
Olaf Scholz: Von den Jusos bis ins Kanzleramt

In einer Regierungserklärung kündigt er ein Betätigungsverbot für die Hamas an, ebenso für das palästinensische Netzwerk "Samidoun". Seine Innenministerin, die für die Umsetzung zuständig ist, kann Scholz' Tatendrang nur hinterher eilen: Die Verbote würden "intensiv" vorbereitet und sollen "schnellstmöglich" vollzogen werden, teilt Faeser nach Scholz‘ Auftritt im Bundestag mit. Schon kurz nach dem Angriff gibt Deutschland grünes Licht für erste Militärhilfe, will Israel zwei geleaste Heron-Kampfdrohnen zur Verfügung stellen. Nun ist Scholz – als erster Regierungschef und noch vor US-Präsident Joe Biden – nach Israel gereist. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat der Kanzler fast vier Monate gewartet, bis er mit einem Besuch ein Zeichen der Solidarität setzte.
Mittags Israel, Abends Ägypten
In Israel spricht Scholz mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Präsident Izchak Herzog und Angehörigen deutscher Geiseln der Hamas, die in den Gaza-Streifen verschleppt wurden. Informiert sich über die Lage im Kriegsgebiet, wie ein Flächenbrand in der Region verhindert werden kann. Am Abend geht es weiter nach Ägypten, das als einziges Nachbarland Israels an den Gazastreifen grenzt. In den vergangenen Tagen hat Scholz schon Gespräche mit den Staatschefs von Katar und Türkei geführt – alles Länder, von denen sich der Kanzler Einfluss auf die Hamas verspricht.
Insofern ist Scholz‘ dicht gedrängter Terminkalender auch Ausweis der vielen Baustellen, die der Bundeskanzler – nun höchst selbst – beackert. Die drängenden Krisen sind nun Chefsache, so die Botschaft. Wie lang das hält? Kann niemand wirklich sagen. Bei Scholz kann es schon vorkommen, dass er nach Phasen großer Aktivität plötzlich wieder abtaucht, aus dem Rhythmus kommt.
Als nächstes steht das schlechte Erscheinungsbild der Ampel auf der Tagesordnung. Aktuellen Umfragen zufolge würde das Dreier-Bündnis derzeit – also zur Hälfte der Legislaturperiode – eine Mehrheit weit verfehlen. Wie sich das ändern lässt, dürfte am Freitag im Koalitionsausschuss zur Sprache kommen. Scholz will auch über 2025 hinaus Kanzler bleiben. Den Wahlkampf hat er nun eingeläutet.