Oskar Lafontaine "Wir wollten etwas an deres"

Von Oskar Lafontaine
Was war richtig? Schröders Nein zum Irak-Krieg. Was war falsch? Fast alles andere. Für den stern bespricht der frühere SPD-Chef Oskar Lafontaine exklusiv die Erinnerungen des Mannes, dem er zur Kanzlerschaft verhalf.

Als der Bildhauer Oswald Hiery den Auftrag erhielt, eine Plastik des ehemaligen saarländischen Mi nisterpräsidenten Franz-Josef Röder herzustellen, machte er die Büste gleich zweimal und ließ den doppelten Ministerpräsidenten sich selbst auf die Schulter klopfen. Die Plastik entsprach nicht den Erwartungen der Auftraggeber und musste umgearbeitet werden. Mir aber gefiel sie außerordentlich. Ich hatte auch gleich einen Namen für das Porträt parat: "Der Memoirenschreiber". Etwas später fiel mir ein Buch des Franzosen Roland Topor in die Hände, in dem er die Autobiografen aller Länder auf den Arm nahm: "Memoires d'un vieux con" - "Memoiren eines alten AÉ". Der Held der Persiflage kannte alle Größen seiner Zeit persönlich, was seine Selbsteinschätzung ungemein steigerte.

In seinem Buch "Entscheidungen. Mein Leben in der Politik" ist Gerhard Schröder nur in begrenztem Umfang beiden Versuchungen, sich auf diese Art selbst zu beweihräuchern, erlegen. Das Auf-die-eigene-Schulter-Klopfen hält sich in Grenzen, die persönliche Freundschaft mit den Großen seiner Zeit wird nicht überstrapaziert. Wir erfahren, wie gut sich im Laufe der Jahre die Zusammenarbeit mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac entwickelte und dass der Herr des Elysée-Palastes auch heute noch mit den Schröders Kontakt hält. Das Gleiche gilt für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Über die enge Freundschaft zwischen dem deutschen Kanzler und dem ehemaligen KGB-Agenten, der in Dresden residierte, ist viel geschrieben worden. Sie ist von Dauer und hat sich, wie wir alle wissen, für Schröder ausgezahlt. Neu ist, dass Putin in den Augen Schröders nicht nur ein lupenreiner Demokrat, sondern auch ein religiöser Mensch ist. Da ist man doch ganz ergriffen. Wie George W. Bush seine Hände zum Beten faltet, bevor er seine Bomber nach Afghanistan oder in den Irak schickt, so fleht Wladimir Putin in einem Kloster um göttlichen Beistand - ein Bild im Buch zeigt ihn im Dreifaltigkeits-Sergios-Kloster in Sergijew Possad, bevor er seine Soldateska zum Morden nach Tschetschenien schickt.

Die Schilderung der persönlichen Begegnungen Schröders mit den Staatsmännern der Welt sind in den Memoiren aber nur Beiwerk, um auch dem politisch weniger interessierten Leser etwas zu erzählen. Sein Kernanliegen ist ein anderes. Er will die Deutungshoheit über die sieben Jahre der rot-grünen Koalition behalten. Aber bei diesem Versuch wirkt doch vieles sehr bemüht. Wir alle neigen dazu, uns unsere Welt schönzureden. Aber ein ehemaliger Bundeskanzler muss es sich gefallen lassen, wenn andere, die dabei waren, Einspruch erheben.

Schröder wollte die rot-grüne Koalition nicht. "Ich wäre auch kein Gegner einer Großen Koalition gewesen. Im Gegenteil, der Berg von Problemen, die uns die Kohl-Regierung hinterlassen hatte, die Notwendigkeit von Reformen legten den Gedanken an eine Große Koalition nahe", schreibt er. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Mitglieder wollte aber ebenso wie ich als Parteivorsitzender die Koalition mit den Grünen. Das Wahlergebnis am 27. September 1998 verwies Schröders Überlegungen ins Reich der Fantasie. Er wurde also Regierungschef einer Koalition, die er nicht gewollt hatte. Nicht zuletzt daraus erklären sich die Schwierigkeiten, mit denen die rot-grüne Regierung es am Anfang zu tun hatte.

Die wichtigsten Ziele des rot-grünen Bündnisses waren eine deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit, die Herbeiführung größerer sozialer Gerechtigkeit, die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft und eine Außenpolitik, die sich an der Friedenspolitik Willy Brandts orientierte. Drei dieser Ziele wurden während Schröders Kanzlerschaft deutlich ver-fehlt, vorangekommen ist Deutschland beim Umweltschutz, in der Energie- und Agrarpolitik.

Stolz ist Schröder auf seine Außenpolitik, mit der er "Deutschlands Rolle in der Welt neu definiert hat". Und in der Tat, hier hat er eine historische Leistung vorzuweisen. Seine Weigerung, Bushs Krieg gegen Saddam Hussein im UN-Sicherheitsrat zuzustimmen und deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, ist für mich die bedeutendste Entscheidung seiner Kanzlerschaft.

Dennoch komme ich in der Gesamtbe-wertung zu einem äußerst negativen Urteil über seine Außenpolitik. Wie im Inneren einer Gesellschaft die Beachtung des Rechts, so ist zwischen den Staaten die Beachtung des Völkerrechts die Voraussetzung für den Frieden. Statt das Völkerrecht zur Grundlage ihrer Außenpolitik zu machen, förderten Fischer und Schröder im Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten den Bruch des Völkerrechts. Es begann mit dem Jugoslawien-Krieg. Es gab Gründe, zum Schutz menschlichen Lebens militärisch einzugreifen, wenn man dafür auch nicht Auschwitz bemühen durfte. Aber bewusst hatten wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben, uns, wenn überhaupt, nur auf der Grundlage von Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates an militärischen Interventionen zu beteiligen. Schröder hatte das schnell vergessen.

Genau hier, wenn er den Jugoslawien-Krieg schildert, beginnt Schröders Auseinandersetzung mit meinem Rücktritt im Jahre 1999. Es ist erstaunlich, wie er sich die Fakten zurechtbiegt. Geht es nach ihm, hat der völkerrechtswidrige Krieg gegen Jugoslawien bei meinem Amtsverzicht keine Rolle gespielt, da ich in den Monaten, in denen der Krieg vorbereitet wurde, keine Einwände erhoben hätte. Das ist starker Tobak. In allen Parteitagsprotokollen der SPD ist nachzulesen, wie sehr mich die Frage, ob die Bundeswehr außerhalb Deutschlands eingesetzt werden könnte, beschäftigte. Die von mir maßgeblich beeinflusste Beschlusslage der SPD war klar. Blauhelmeinsätze ja, Kriegseinsätze nein. Die äußerste Rückzugslinie für die Regierungsarbeit war daher die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Beachtung des Völkerrechts.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Zusage, sich am Jugoslawien-Krieg auch ohne völkerrechtliche Grundlage zu beteiligen, machten Schröder und Fischer ohne Abstimmung mit mir, und sie berichteten darüber auch nicht in den Koalitionsgesprächen. Das Völkerrecht verlangt für militärische Interventionen aber nicht nur eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, sondern auch die Beachtung der Genfer Konventionen. Diese verpflichten die Krieg führenden Parteien, die Zivilbevölkerung zu schonen. Mehrfach stellte ich daher im Kabinett die Frage, an welche Kampfmaßnahmen gedacht sei, wenn sich die Staatengemein-schaft zu einem militärischen Angriff entschließen sollte. Schröder erinnert sich daran nicht mehr, und Scharping und Fischer wussten damals keine Antwort.

Bei Schröder liest sich das so: "Der Luftkrieg gegen Restjugoslawien war nicht mehr zu vermeiden." Eine rot-grüne Regierung aber hätte der amerikanischen Strategie "Keine eigenen Toten", die voraussetzte, dass Jugoslawien aus mehreren Tausend Metern Höhe bombardiert wird, nicht zustimmen dürfen. Die militärische Vorgehensweise der USA führte zu über 1500 Opfern in der Zivilbevölkerung, die als Kollateralschäden verharmlost wurden.

Auch bei den anderen Entscheidungen, die Schröder bei der Wertung meines Rücktritts erwähnt, wird deutlich, wie unterschiedlich wir die Ereignisse wahrgenommen haben. Zwar schmeichelt es mir, wenn mein ehemaliger Partner auch heute noch an seiner Einschätzung festhält, nie wieder einen so begabten politischen Menschen kennengelernt zu haben. Und wenn er zum Ergebnis kommt, dass mein Rücktritt auch mit dem Attentat vom 25. April 1990, das ich nur knapp überlebte, zusammenhängt, dann stimme ich zu. Aber wenn er mir eine unbewusste Scheu, Verantwortung zu übernehmen, unterstellt, um meine Demission zu erklären, dann wirkt das eher komisch, auch wenn man zu meinem Rücktritt unterschiedliche Auffassungen haben kann. Als Bürgermeister, Ministerpräsident und Minister habe ich viel länger Verantwortung getragen als Gerhard Schröder und musste die von ihm reklamierte "Handlungs- und Gestaltungsfantasie" entwickeln.

Sein Versuch, mich auf die Rolle eines begabten Oppositionspolitikers zu reduzieren, ist nur damit zu erklären, dass er sich bis heute weigert, zuzugeben, dass der Verzicht auf alle meine Ämter das Ergebnis seines Wortbruchs war. Wir hatten uns in die Hand versprochen, das 1998 den Wählern vorgelegte Regierungsprogramm umzusetzen. Als Kanzler machte Schröder eine Politik, die das Gegenteil von dem war, was wir den Wählern versprochen hatten.

Die Missachtung des Völkerrechts kennzeichnet auch den Afghanistan-Krieg. Zwar waren die USA nach den Angriffen auf das World Trade Center berechtigt, die Trainingslager der al Qaeda anzugreifen, aber die flächendeckende Bombardierung von Städten und Dörfern und der Einsatz von Streubomben stellten eine eklatante Verletzung des Völkerrechts dar.

Auch diesen Verstoss gegen die Genfer Konventionen nahmen Schröder und Fischer mehr oder weniger widerspruchslos hin. Was die KSK in all den Jahren in Afghanistan trieb, weiß die Öffentlichkeit bis heute nicht, und mittlerweile fliegt die Nato Luftangriffe in Afghanistan, bei denen - es handelt sich wieder um Kollateralschäden - Frauen und Kinder getötet werden. Wundert sich jemand, wenn eines Tages die Hinterbliebenen dieser Opfer auf diesen Terror mit Terroranschlägen in den Nato-Staaten reagieren?

Dass Schröder auch den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg durch die Bereitstellung von Überflugrechten und Flugplätzen unterstützte, darauf hat das Bundesverwaltungsgericht hingewiesen: "Eine Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Delikt ist selbst ein völkerrechtswidriges Delikt." So beeindruckend Schröders Weigerung, Soldaten in den Irak zu schicken, war, der ständige Verstoß gegen das Völkerrecht kann nicht Bestandteil der deutschen Außenpolitik bleiben.

Es wundert mich auch nicht, dass Schröder in seinem Rückblick dem einst wichtigsten Ziel der rot-grünen Koalition, die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken, wenig Aufmerksamkeit schenkt. Zu eindeutig sind die Zahlen. Er ist mit seiner neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ebenso gescheitert wie bei dem Ziel, in Deutschland mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die Reichen wurden reicher und die Armen ärmer. Es gab viele Milliarden Steuergeschenke für Vermögende, Konzerne und Spitzenverdiener und Kürzungen sozialer Leistungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß bei Rentnern, Kranken und Arbeitslosen. Mit den Hartz-Gesetzen warf Schröder alles über Bord, was bis dahin Bestandteil sozialdemokratischer Politik war. Eine Generation, die in den 60er Jahren die Vergesellschaftung der Banken und Schlüsselindustrien gefordert hatte, enteignete jetzt die Arbeitnehmer. Die SPD verlor 200 000 Mitglieder und Millionen Wähler. Das Vorziehen der Bundestagswahl im Jahre 2005 war unausweichlich.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, wollte Schröder es noch einmal wissen. Er kämpfte wie ein Löwe und hätte es beinahe geschafft. Er säße immer noch im Kanzleramt, wenn die neue Linke nicht kandidiert und 8,7 Prozent der Wählerstimmen erreicht hätte. Merkwürdig, dass Schröder in dem Kapitel, in dem er seinen letzten Wahlkampf beschreibt, dies übergeht. Verweigert er sich der Einsicht, dass er, wie einst Helmut Schmidt bei den Grünen, bei der Gründung der neuen Linken Pate gestanden hat?

Das Buch ist eine aufschlussreiche Zusammenfassung und Deutung der rot-grünen Regierungszeit. Es zeigt, in welchem Ausmaß Gerhard Schröder diese Jahre im Guten und im Schlechten geprägt hat. Als er sich mit einem Großen Zapfenstreich der Bundeswehr aus dem Amt des Bundeskanzlers verabschiedete, wurde Frank Sinatras Song "I Did It My Way" gespielt. Gerhard Schröder kamen die Tränen. Als ich diese Szene im Fernsehen sah, war die Bitterkeit der letzten Jahre verflogen. Ich war auf seltsame Art und Weise beklommen, denn wir wollten etwas anderes.

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