Neue Klima-Sofortmaßnahmen Habeck drückt bei Energiewende aufs Tempo – doch ihm läuft die Zeit davon, sagen Experten

Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck
Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck
© Kay Nietfeld / DPA
Im Kampf gegen die Klimakrise steht Deutschland nicht gut da. Die Bundesregierung hat daher ein neues Klima-Sofortprogramm angekündigt. Ambitioniert sagen die einen, leider sehr spät kritisieren die anderen.

Die Aufgabe sei nicht weniger als "gigantisch" kündigte Robert Habeck bei seiner Klima-Eröffnungsbilanz am Dienstag an. Auf einer großen Grafik zeigte der frischgebackene Wirtschafts- und Klimaschutzminister, wie weit Deutschland derzeit vom Erreichen seiner Klimaziele entfernt ist. Sowohl bei den CO2-Zielen als auch beim Ausbau der erneuerbarer Energien gebe es einen "gehörigen Rückstand". Nach den Sondereffekten im Coronajahr rechnen Prognosen für 2021 "mit einem Anstieg der Emissionen um vier Prozent" – dabei müsste es bis 2030 eine jährliche Minderung von etwa 40 Millionen Tonnen geben. Der Trend gehe eindeutig "in die falsche Richtung", bilanzierte der Minister.

Um die Klimaziele noch zu erreichen, will Habeck zügig zwei umfangreiche Sofortprogramme auf den Weg bringen. Das erste soll bereits im April vom Kabinett beschlossen werden, das zweite im Sommer folgen. Sowohl beim Ausbau der Wind- und Solarenergie als auch im Gebäudesektor und bei der Transformation der Industrie, will der Grünen-Politiker nicht nur einen, sondern drei Schritte zulegen. "Wir müssen dreimal besser werden in allen Bereichen", forderte er.

Experte: Günstiger grüner Strom wichtig für Transformation

Insgesamt stoßen die neuen Klimapläne auf positives Feedback. Andreas Fischer, Energie- und Klimaforscher am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, begrüßte die Zielsetzung, mahnte jedoch vor allem zu Tempo. Mit Blick auf den Umfang notwendiger Investitionen und der damit verbundenen Planung und Realisierung werde es mit einer Umsetzung bis 2030 sehr knapp, sagte Fischer dem stern. Die höchste Dringlichkeit sieht Energieökonom Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum hier speziell bei der Stromerzeugung. Für die Energiewende brauche es günstigen grünen Strom in großen Mengen – dies sei der Schlüssel für die Transformation.

Aktuell machen erneuerbare Energien einen Anteil von 42 Prozent an der deutschen Stromversorgung aus. Bis 2030 soll dieser auf 80 Prozent steigen. Der Ausbau von Wind- und Solarkraft habe daher oberste Priorität, betonte Habeck, zudem sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzt werden. Technisch sei der Anstieg innerhalb acht Jahren machbar, sind sich die Energie-Experten Fischer und Löschel einig. Der Knackpunkt sei hier laut Fischer vor allem der Zeitfaktor. Alles werde davon abhängen, ob die Regierung den Flaschenhals "Planungs- und Genehmigungsprozesse" wie geplant beseitigen kann.

Windkraft-Ausbau soll beschleunigt werden

Als Teil der Sofortprogramme soll der Ausbau der Windkraft – die Habeck als "Lastesel der Energiewende" bezeichnete – massiv beschleunigt werden. Bisher gibt es in Deutschland jedoch viel zu wenig ausgewiesene Flächen für Windkraftanlagen. Die Anlagen sollen daher künftig zwei Prozent der Landfläche in Deutschland einnehmen, viermal so viel wie bisher. Bisher kämen nur Hessen und Schleswig-Holstein in die Nähe dieser Zielmarke, so Habeck. Wo zu restriktive Abstandsregeln Neubauten verhinderten, "können die nicht länger bestehen bleiben", stellte der Grünen-Politiker klar und kündigte zügige Gespräche mit den Ländern an.

Das Vorhaben stößt vor allem bei der CSU in Bayern auf Kritik, das eine der schärfsten Abstandsregelungen im ganzen Land hat. Nach der sogenannten 10-H-Regelung muss ein Windrad mindestens das Zehnfache seiner Höhe von der nächsten Wohnsiedlung entfernt sein. Er werde "sehr schnell nach Bayern fahren" und das Gespräch suchen, versprach Habeck am Dienstagabend in den ARD-"Tagesthemen". Für IW-Energieökonom Fischer ist die Abschaffung von fixen Mindestabstands und Sonderregelungen, wie in Bayern, hingegen ein längst überfälliger Schritt. Wind sei bereits im Jahr 2020 Energieträger Nummer eins im deutschen Strommix gewesen und werde dies auch zukünftig sein.

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Um die Anlagen gibt es jedoch nicht nur in Bayern Streit. "Der Teufel liegt natürlich im Detail", sagte Habeck mit Blick auf Spannungen in der Bevölkerung. Immer dann, wenn Windkraftanlagen oder Stromtrassen gebaut werden, sagten Leute: "Das mag alles schön und gut sein, aber bitte nicht da, da gehe ich immer am Sonntag spazieren mit meinem Waldi." Der Grünen-Minister will daher noch stärker mit den betroffenen Regionen und Menschen in den Dialog treten. Einerseits müssten Klimaschutzanforderungen sozial verträglich werden, andererseits gehe es darum hervorzuheben, dass Windparks auch wirtschaftliche Vorteile für die Standorte mit sich bringen. Individuelle Betroffenheiten gebe es natürlich immer, aber Habeck sagte, er hoffe, dass die Gesellschaft dazu in der Lage sei auch über diesen "individuellen Betroffenheitsschatten" zu springen.

Solar-Ausbau: Ungenutztes Potenzial auf den Dächern

Ein weiterer wichtiger Baustein: Auch bei der Photovoltaik will Klimaschutzminister Habeck ordentlich Nachrüsten. Die installierte Leistung soll bis 2030 auf 200 Gigawatt gesteigert werden, also um mehr als das dreifache. Wie im Ampel-Koalitionsvertrag vorgesehen, soll die Solarstromerzeugung auf gewerblichen Neubauten verpflichtend und im privaten Neubau "zur Regel" werden. Der Energieökonom Löschel sieht hierbei vor allem eine Chance, das ungenutzte Potenzial auf den Dächern zu erschließen, etwa durch deutliche Verbesserungen beim Mieterstrom. Ab 2023 soll die EEG-Umlage, die Kunden bisher über die Stromrechnung zahlen, über den Bundeshaushalt finanziert werden. Pro Jahr entlaste das laut Habeck einen Durchschnittshaushalt um 300 Euro.

Da Deutschland bis Ende 2022 aus der Atomkraft und in den kommenden Jahren schrittweise aus der Kohle aussteigt, werde man als "Brückentechnologie" zunächst neue Gaskraftwerke bauen, räumte der Grünen-Politiker ein. Diese Kraftwerke sollen jedoch später mit Wasserstoff betrieben werden können. Das ist der entscheidende Punkt für Energie- und Klimaforscher Fischer, denn so setze man auf eine verlässlich steuerbare, aber ebenso klimaneutrale Komponente in der Energieversorgung.

Überwiegend positives Echo für Robert Habeck

Für den Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, geht vor allem mit dem massiven Ausbau der Öko-Energien vieles in die richtige Richtung. Es brauche jedoch schnell eine marktbasierte steigende CO2-Bepreisung mit Sozialausgleich. "Denn bezahlt werden muss der nötige Umbau unserer Wirtschaft, so oder so", mahnte der Klimaforscher gegenüber dem stern. "Es ist aber für alle billiger, wenn der CO2-Preis steigt."

Kritik an den Kosten kam auch aus der Opposition. Julia Klöckner, wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, kritisierte, dass angesichts massiv steigender Kosten für Energie und Klimaschutz sofort gehandelt werden müsse, nicht erst 2023. "Anderenfalls droht eine akute Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts und der Arbeitsplätze in Deutschland."

Überwiegend gab es jedoch Zuspruch für die neuen Klimapläne. So sprach der Bundesverband Erneuerbare Energie gar von einer "neuen Ära" der Energie- und Klimaschutzpolitik. Habeck habe den dringenden Handlungsbedarf beim Klimaschutz und für einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort erkannt, erklärte Verbandspräsidentin Simone Peter am Dienstag. Auch Greenpeace-Klimaexpertin Lisa Göldner sagte: "Aufbruch liegt in der Luft." Habeck verpasse der darbenden deutschen Energiewende einen dringend nötigen "Booster".

Fest steht, mit seiner Eröffnungsbilanz einen Monat nach Amtsantritt hält der Klimaschutzminister die hohen Erwartungen an ihn geschickt in Schach. Nun müssen den geplanten Maßnahmen Taten folgen. Vieles wird davon abhängen, wie zügig Investitionen getätigt und die hochgesteckten Ziele in die Realität umgesetzt werden. Spätestens im zweiten Teil der Legislaturperiode wird sich Habeck daran messen lassen müssen.

mit DPA-Material/tkr