Sie ist schlagfertig, nimmt kein Blatt vor den Mund und mit ihrem sympathischen Ruhrpott-Dialekt diskutiert sie sich in die Herzen vieler Leidensgenossen. Vor knapp einem Monat gab Susanne Neumann, Reinigungsfachkraft und Gewerkschafterin von der IG Bau, ihr Talk-Debüt bei "Anne Will" zum Thema "Heute kleiner Lohn, morgen Altersarmut - versagt der Sozialstaat?" Knapp einen Monat später stand sie mit Vizekanzler Sigmar Gabriel auf der Bühne einer SPD-Veranstaltung die bundesweit im TV übertragen wurde - und überzeugte auf voller Linie mit ihren pragmatischen Argumenten. Seit dem avanciert Neumann zu einer Art Shooting-Star im Kampf gegen Altersarmut, auch in den Reihen der SPD. Ein Interview folgt auf das nächste - zuletzt war die 57-Jährige auch bei Markus Lanz zu Gast.
Schon bei ihrem ersten Auftritt bei "Anne Will" schilderte sie überzeugend ihre beruflich prekäre Situation, in der sich ohne Zweifel so mancher Zuschauer wiederfinden dürfte. Die Gelsenkirchenerin erzählte bei in der Talk-Sendung, bei der auch SPD-Politikerin und NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft eingeladen war, wie sie - und viele ihrer Kollegen - geradewegs auf die Altersarmut zusteuern.
Offen und ohne große Umschweife erzählte sie, wie die 35 Jahre als Putzfrau schuftete und ihr dennoch auf ihrem Rentenbescheid nur 735 Euro in Aussicht gestellt werden. Dies sei nur knapp mehr als die Grundsicherung. Durch ihr Krebsleiden sei unklar, ob und wann sie wieder arbeiten könne. Daher könnte es leicht bei diesen niedrigen Renten-Aussichten bleiben. Als Gewerkschafterin erzählte sie auch von "ihren Mädels", der Kassiererin oder Bäckereigehilfin die zum Mindestlohn von 8,50 schuften: "Die landen alle in der Altersarmut", so Neumann damals.
"Was habe ich verkehrt gemacht? Ich habe immer malocht"
"Ich habe Kinder geboren. Ich habe meinen Haushalt gemacht. Ich habe meinen Vater zum Schluss noch versorgt. Bin immer vollschichtig arbeiten gegangen. Ich kann von meiner Rente nicht leben. Was habe ich verkehrt gemacht? Ich war nie faul. Ich habe immer malocht. Und das ist ungerecht." Damit hat Neumann offenbar einen Nerv getroffen. Doch Ministerpräsidentin Kraft reagierte eher schroff auf die 57-Jährige. Als SPD-Frau sicher nicht der geschickteste Schachzug, denn so mancher Wähler dürfte sich in einer ähnlichen Situation wie Neumann und "ihre Mädels" befinden.
Die SPD ist ja traditionell eine Partei, die die Ansicht vertritt, harte Arbeit müsse auch gerecht entlohnt werden. Vor der Kamera reagierte Kraft eher schroff auf Neumann, aber hinter den Kulissen gelang es der NRW-Landesmutter dann doch, die Reinigungsfachkraft von den Zielen der SPD zu überzeugen - und als neues Parteimitglied zu gewinnen, wie sie stolz in einer Videobotschaft zeigte: "Die Susi Neumann (…) ist jetzt Mitglied der SPD geworden. Also im Moment habe ich einen Lauf. Es lohnt sich, Mitglied der SPD zu werden, auch für andere". Doch Neumann wirkte noch etwas skeptisch: "Schaun mer mal", sagte sie in die Kamera.
Der volksnahe Partei-Zuwachs blieb auch von Parteichef Gabriel nicht unbemerkt - als Prototyp eines Problems, das sich die SPD weit oben auf die Fahne geschrieben hat. Prompt lud der Vizekanzler die Frau mit dem Rasiermesser scharfen Charme zur "Wertekonferenz Gerechtigkeit", einer SPD-Veranstaltung im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Spätestens seit dem ist die Putzfrau - wie sie sich selbst nennt - in den Augen vieler zu einer prototypischen Vertreterin der Generation Altersarmut avanciert. Und wird so zu einer Art Aushängeschild für die SPD, für die dieses Thema immer wieder zentraler Wahlkampfpunkt war.
"Große Politik auf ein paar wenige Sätze reduzieren"
Auch in der Podiumsdiskussion mit Gabriel vor vielen Zuschauern nahm Neumann kein Blatt vor den Mund - und schreckte auch vor unbequemen Fragen nicht zurück. Die Reinigungsfachkraft schilderte in dem Gespräch mit Gabriel, wie sie das so mit der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland empfindet. Und trotz kürzlich erworbener Parteimitgliedschaft sieht sie die Schuld für die aktuelle Misere auch bei der SPD. Genauer gesagt in der Agenda 2010, die noch unter Bundeskanzler Gerhard Schröder weitestgehend durchgeboxt wurde. Gewerkschafterin Neubert berichtet auch, wie in der Reinigungsbranche Verträge häufig grundlos auf sechs Monate befristet werden. Wenn man krank oder gar Gewerkschaftsmitglied sei, werde der Vertrag nicht verlängert.
"Warum soll ich eine Partei wählen, die mir das eingebrockt hat?" Eine gute Frage. Gabriel gibt sich einsichtig: Mit dem Koalitionspartner sei eine Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse eben nicht machbar. "Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?", fragte die Putzfrau unverblümt. Volltreffer! Der Saal applaudierte. Doch auch Gabriel gelang es im Dialog mit Neumann, verlorene Sympathien wieder wettzumachen, und sich volksnah zu präsentieren. Ungefähr 15 Minuten dauerte das teilweise humorvolle, aber in Teilen auch ernste Gespräch insgesamt.
Und weil Neumanns Auftritt mal wieder richtig gut ankam - und deutschlandweit unter den Schlagzeilen "Wie eine Gelsenkirchener Putzfrau SPD-Chef Gabriel die Leviten liest" Schlagzeilen macht, wurde die 57-Jährige auch gleich zu Markus Lanz eingeladen. Angeknüpft wurde dort direkt an die Diskussion mit dem Vizekanzler bei der SPD-Veranstaltung. Nicht unzutreffend stellte Lanz Neubert unter anderem als die Frau vor, "die es geschafft hat, große Politik auf ein paar wenige Sätze zu reduzieren."
"Von den 725 Euro brutto im Monat kann man nicht leben und nicht sterben"
Neumann erzählte dann, wie es zu der Diskussion mit Gabriel gekommen sei. Nach ihrem Auftritt bei Anne Will habe man sie angerufen und gefragt, "ob ich bereit wäre ein Gespräch mit Gabriel zu führen. 'Joah', sagte ich, warum nicht." Sie habe sich das jedoch eher im kleinen Rahmen vorgestellt - und nicht vor Hunderten SPD-Mitgliedern. Da das Ganze auch noch live im Fernsehen übertragen werden sollte, wie sie im Vorfeld erfuhr, ging ihr "der Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen auf Grundeis." Wieder hatte Neumann die Lacher auf ihrer Seite.
Bei Lanz zeigte sich Neumann etwas erstaunt darüber, dass die von ihr offen angesprochene Problematik mit der Altersarmut nun plötzlich so ein Medienecho erhält: "Das wussten die Menschen doch vorher!" Die 57-Jährige erzählte viel aus ihrem Leben: Die Arbeit als Putzfrau wollte sie ursprünglich nur vorübergehend machen - des Geldes wegen, sie musste zwei Kinder mitversorgen. Mit Neunzehn war sie bereits zweifache Mutter. Über Jahrzehnte habe "Vater Staat" ihr fünfzig Prozent des Verdienten weggenommen, nun sei sie aufgrund ihrer Krebserkrankung auf Hilfe angewiesen - doch die fällt mehr als bescheiden aus. Viele teilen ihr Schicksal: "Von den 725 Euro brutto im Monat kann man nicht leben und nicht sterben", so Neumann.
Grund für ihren Auftritt mit Gabriel seien ihre Erfahrungen als Gewerkschafterin und weil sie von so vielen Menschen wisse, denen es ähnlich geht. Unbezahlte Überstunden, befristete Werksverträge - und wer aufmuckt, der fliegt. Eine Situation, in der sich in Deutschland viele tausende Menschen befinden, in den verschiedensten Branchen, so die 57-Jährige. Bleibt zu hoffen, dass Neumann auch in Zukunft auf ihre authentische Art gegen die Ungerechtigkeit kämpft - gerne auch weiterhin ohne Blatt vor dem Mund.