Nach dem politischen Beben in Thüringen schienen Neuwahlen schon so gut wie abgemacht. Doch die Thüringer CDU sperrt sich dagegen – und steht damit selbst konträr zur Bundespartei. Auch Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer blitzte während eines Krisengesprächs am Donnerstagabend in Erfurt damit ab, die Thüringer CDU einzunorden und damit den Weg für einen weiteren Urnengang in Thüringen frei zu machen.
Eine frische Umfrage vom Freitagmorgen gab den sich wehrenden Christdemokraten im Freistaat aus parteiinterner Sicht schließlich recht. Laut den Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Forsa würde die CDU bei einer Neuwahl ein wahres Debakel erleben und um 9,7 Prozentpunkte auf zwölf Prozent der Stimmen absacken. Zudem hätte Rot-Rot-Grün laut dieser Umfrage eine stabile Mehrheit im Landtag. Die Einschätzung von Landeschef Mike Mohring - vor der CDU-Präsidiumssitzung in Berlin am Morgen nochmals wiederholt -, eine weitere Wahl würde an den Kräfteverhältnissen im Landtag kaum etwas ändern, wurde durch diese Zahlen zwar pulverisiert, gab der Thüringer CDU aber noch mehr Grund, darauf zu drängen, zunächst weiter nach einer parlamentarischen Lösung zu suchen.
Thüringen: Parlamentarische Lösung? Wie denn?
Unter politischen Beobachtern in Erfurt herrscht allerdings völlige Ratlosigkeit, wie eine solche Lösung aussehen könnte. Die Fronten sind spätestens seit der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen von CDU und AfD vollkommen verhärtet. Folgende Wege wären zumindest denkbar:
Rot-rot-grüne Minderheitsregierung: Für dieses Szenario müsste die CDU sich bewegen und ihre bisherige, fundamentale Ablehnung eines linken Regierungschefs ablegen. Angesichts des politischen Bebens, das die Wahl Kemmerichs ausgelöst hat, scheint die Union nun dazu bereit, wie Raymond Walk, Generalsekretär der CDU Thüringen, im MDR andeutete. Konkret: Sollte Kemmerich die Vertrauensfrage stellen und verlieren und würde sich dann Bodo Ramelow erneut zur Wahl stellen, wäre es möglich, dass sich die CDU enthalte, so dass der Linken-Politiker ausreichend Stimmen bekommen würde, so Walk. Dadurch würde der Weg frei für eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, die sich von Fall zu Fall Mehrheiten suchen müsste. Bewertung: Die wahrscheinlichste Variante, da sie rasch zu realisieren ist, und sowohl CDU als auch FDP vor einem möglichen Wahldebakel bewahrt. Die Union drängt nun darauf, dass SPD oder Grüne den Kandidaten stellen. Darauf kann sich die Linke als stärkste Fraktion kaum einlassen.
Die Experten- oder Beamtenregierung: Die erzkonservative "Werte-Union" hat im Deutschlandfunk eine Expertenregierung nach Vorbild der österreichischen Übergangsregierung unter Führung von Ministerpräsident Thomas Kemmerich ins Gespräch gebracht. Dort war im vergangenen Jahr nach dem Auseinanderbrechen der ÖVP-FPÖ-Koalition aufgrund der "Ibiza-Affäre" eine Regierung aus Juristen, Beamten und Fachleuten unter Führung der parteilosen früheren Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein gebildet worden. In einer Variante hatte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor der CDU-Präsidiumssitzung am Vormittag einen "parteiunabhängigen Kandidaten, der Thüringen einigen kann" ins Gespräch gebracht. Bewertung: Gangbare Lösung, mit der man zunächst Zeit gewinnt. Mehr nicht. Eine Expertenregierung kann keine Dauerlösung, da sie eingesetzt und nicht gewählt ist. Geklärt werden müsste, ob die Landesverfassung ein solches Konstrukt erlaubt.
Mehrheit jenseits der AfD: Rechnerisch möglich wäre eine "Anti-AfD-Koalition", auch "Koalition der Demokraten" genannt. Mit 68 Sitzen hätte das Bündnis aus fünf Parteien eine satte Mehrheit. Die AfD bliebe dann als einzige Oppositionspartei zurück. Bewertung: Nicht mehr als ein Gedankenspiel. CDU und FDP mögen sich noch zu einer Duldung des Linken-Politikers Bodo Ramelow durchringen – ihn direkt zum Ministerpräsidenten wählen und eventuell Minister für sein Kabinett abstellen werden sie aber auf keinen Fall.
Minderheitsregierung der Demokraten: Diesen Vorschlag hat es kurzzeitig schon gegeben. Unter Ausschluss der "Ränder" – sprich: der Linkspartei und der rechtspopulistischen AfD – bilden CDU, SPD, Grüne und FDP ein Regierungsbündnis, das 39 Stimmen im Landtag hätte. Bewertung: Nicht machbar. Diesem Bündnis fehlen aufgrund der Ausgrenzung schlicht die nötigen Partner für eine projektbezogene Arbeit einer Minderheitsregierung.
Die "bürgerliche" Mehrheit: Ja, die drei Parteien jenseits von Rot-Rot-Grün hätten im Landtag eine Mehrheit von zusammen 48 Stimmen. Diese Mehrheit hat FDP-Mann Thomas Kemmerich am Mittwoch zum Ministerpräsidenten gewählt und das politische Beben ausgelöst. Formal gesehen spricht nichts dagegen, dass Kemmerich nun ein Kabinett mit Ministern aus diesen drei Parteien bildet und in den kommenden fünf Jahren in Thüringen regiert. Auf parlamentarischem Wege könnte – Stand jetzt – FDP, CDU und AfD niemand daran hindern. Bewertung: Rechnerisch möglich, aber ein absoluter Affront. Aufgrund der Aufregung der letzten Tage verbietet sich diese Variante ohnehin von selbst. Zudem haben CDU und FDP eilends wieder betont, nicht mit der AfD zusammenarbeiten zu wollen. Kemmerich hat seinen Rücktritt bereits angekündigt.
Unter dem Strich liefe also im Grunde alles darauf hinaus, dass die CDU eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow (Linke) toleriert, um Neuwahlen zu verhindern. Das wäre genau die Konstellation, die am Mittwoch alle Beobachter erwartet hatten, ehe die FDP Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang als Kandidaten aufstellte und der AfD damit die Gelegenheit gab, den Linkenpolitiker zu verhindern. Auch die CDU will Ramelow nun noch verhindern, weil dieser "offensichtlich keine Mehrheit habe", so Kramp-Karrenbauer. Allerdings: Auf die Kandidaten der kleinen Fraktionen von SPD und Grüne träfe das - Stand jetzt - erst recht zu. Und: Laut der Forsa-Umfrage vom Freitagmorgen wünschen sich 64 Prozent der Thüringer Ramelow als Ministerpräsidenten.
Update: Dieser Text wurde aktualisiert, nachdem die CDU am Freitagmittag vorgeschlagen hat, SPD oder Grüne sollten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten benennen.
Quellen: Nachrichtenagentur DPA, Nachrichtenagentur AFP, RTL, Deutschlandfunk, MDR, Landesverfassung Thüringen