Wladimir Klitschko könnte jetzt alles Mögliche auf die Frage antworten, wie es ihm aktuell gehe. Aber erst einmal sagt er: "Moin". Das sage man doch hier so?, meint Klitschko sich zu erinnern.
Sicher ist: Wenn dieser Bürgerdialog ein Boxkampf wäre, dann hätte der ehemalige Weltmeister ihn schon jetzt gewonnen. Glattes K.o., gleich zur Begrüßung, durch einen kritischen Treffer ins Sympathie-Zentrum.
Mehr Ungezwungenheit ist nicht drin, das Thema des Abends lässt es nicht zu. Die Chemnitzer "Freie Presse" hat zur Leserdiskussion geladen, es soll um den Krieg in der Ukraine gehen. Vor sechs Stunden ist Klitschko noch im Kriegsgebiet gewesen, nun ist er hier.
Rund 300 Gäste haben sich am Freitagabend im "Kraftverkehr" eingefunden, volles Haus, was auch dem anderen prominenten Gast des Abends geschuldet sein dürfte: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Entsprechend hoch sind die Sicherheitsvorkehrungen. Die Hauptstraße vor dem ehemaligen Busdepot ist gesperrt, Polizisten patroullieren um die Halle. Die Gäste wurden vor dem Einlass abgetastet, ihre Taschen durchsucht.
"Mir geht es relativ gut", sagt Klitschko also. Vor eineinhalb Jahren, mit Beginn des russischen "Vollangriffs", hätte er noch anders auf die Frage geantwortet. Er ist schlichtweg froh, noch am Leben zu sein. "Jeden Tag, jede Nacht sterben die Ukrainer. Nicht nur Militärs, auch Zivilisten, Frauen, Kinder", sagt er. Nach 506 Kriegstagen hätten sich die Ukrainer daran gewöhnt, den Tod zu sehen. "Sie denken von Tag zu Tag."
Es sind Schilderungen wie diese, die Baerbock eine emotionale Brücke bauen, um abermals für die rationale Militärhilfe für die Ukraine zu werben – die nicht nur unbedingte Befürworter kennt. Deutschland ist mittlerweile der zweitgrößte Lieferant (einzig die USA liefern mehr), hat vor Kurzem ein weiteres Waffenpaket im Wert von 700 Millionen Euro geschnürt. Diese Entwicklung ist zumindest in Teilen auch auf die Außenministerin zurückzuführen, die sich schon früh für ein größeres Engagement einsetzte, als andere noch zögerten. Bis heute wird sie dafür von manchen als "Kriegstreiberin" beschimpft.
"Jedes einzelne Menschenleben, das wir retten konnten, war diese Waffenlieferung wert", sagt sie nun. Oder: "Die Ukraine wäre ohne militärische Hilfe vernichtet worden". Sie weiß, dass es längst nicht alle so sehen, insbesondere in Ostdeutschland. Der sächsische CDU- und Regierungschef Michael Kretschmer hat die Skepsis seiner Landsleute, die sich auch in Umfragen wiederspiegelt, längst aufgegriffen, wirbt beispielsweise für die Reparatur der zerstörten Gaspipeline Nord Stream 1 oder dafür, den Krieg einzufrieren. Einen (noch) russlandfreundlicheren Kurs vertritt die rechtspopulistische AfD, offensichtlich mit einigem Erfolg – in Sachsen führt sie die aktuellen Umfragen an.

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Kampf gegen Windmühlen
Auch in Chemnitz muss sich die Außenministerin kritischen Fragen aus dem Publikum stellen, warum Deutschland nicht mehr für eine diplomatische Lösung unternehme. Es sind Windmühlen, gegen die sie seit eineinhalb Jahren ankämpft – unter anderem mit dem durchaus belastbaren Argument, dass alle Bemühungen seit der Krim-Annexion von 2014 letztlich ins Leere gelaufen sind. Bis "eine Minute vor dem Volleinmarsch" habe sie sich um eine diplomatische Lösung bemüht, erklärt Baerbock, daran habe sich bis heute nichts geändert. Trotzdem: Russland ist in die Ukraine einmarschiert – und von seinem Kreuzzug bis heute nicht abgerückt. "Ich wünschte, wir könnten die militärische Hilfe einstellen", sagt die Außenministerin. Doch dann gehe das tägliche Morden und Foltern, das Vergewaltigen und Verschleppen weiter. Und welches Signal würde davon ausgehen, wenn das demokratische Europa einen größenwahnsinnigen Diktator einfach gewähren ließe?
Klitschko fungiert hier geradezu als Kronzeuge – um nicht Sparringspartner zu sagen – von Baerbock, warum es ganz grundsätzlich Waffenlieferungen braucht. Einen Krieg könne man stoppen, wenn man sich wehrt, sagt er. "Und wehren kann man sich mit Waffen." Die Unterstützung werde daher benötigt, solange der Krieg andauere. Denn wie im Sport gelte: "Ausdauer schlägt Klasse und Talent – und auch die zweitgrößte Armee der Welt." Gemeint: die russischen Invasoren.
"Minengürteln in der Größe Westdeutschlands"
Die Politikerin und der ehemalige Profiboxer: Die Kombination wirkt auf den ersten Blick möglicherweise ungewöhnlich. Doch Baerbock und Klitschko ringen schon Lange gemeinsam um mehr Unterstützung. Kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs empfing Baerbock den Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko in Berlin, ehe sie die Klitschkos in der ukrainischen Hauptstadt besuchte – übrigens als erstes deutsches Regierungsmitglied. "Ich bin sehr beeindruckt von Frau Baerbock", sagte Wladimir Klitschko seinerzeit, die Außenministerin mache ihren Job mit "Passion" und "Verstand".
Auch an diesem Abend sind sich Klitschko und die "Frau Ministerin" vor allem einig – außer in einem Punkt: beim Einsatz von Streumunition. Die USA hatten der Ukraine vor Kurzem eine Lieferung zu Verteidigungszwecken zugesichert (mehr dazu lesen Sie hier). Während Klitschko den Einsatz dieser auch von Deutschland geächteten Munition befürwortet, versuchte Baerbock eine diplomatische Haltung: Es stehe ihr nicht zu, ob der Einsatz richtig oder falsch sei. Deutschland habe zwar aus gutem Grund den Vertrag zur Ächtung von Streumunition unterzeichnet, allerdings habe Russland im Osten der Ukraine einen "Minengürtel in der Größe Westdeutschlands" gelegt. Komme die Ukraine zu dem Schluss, diesen mit Streumunition freizubekommen, müsse man das akzeptieren.
Auch das ist eine Erkenntnis der Diskussion: Manche Dilemmata lassen sich nur schwer auflösen, wenn Moral und Überzeugungen aufeinandertreffen. Deswegen hält es Baerbock für "total wichtig," in schwierigen Situationen über diese Gratwanderungen zu sprechen – auch in Form eines Bürgerdialogs wie in Chemnitz. Ein Großteil des Saals, der an diesem Abend den prominenten Gästen vor allem viel Verständnis entgegenbringt, scheint es ähnlich sehen. Dass nicht mehr Reibung entsteht ist aber auch der Moderation geschuldet, die bei ihren Podiumsgästen kaum einhakt oder nachfasst und somit monologisieren lässt.
Zum Schluss noch eine Frage an Wladimir Klitschko, den ehemaligen Profiboxer: Ob ihm sein sportlicher Hintergrund im Krieg irgendwie nützlich sei? Der helfe ihm beim mentalen Widerstand, antwortet er. Aber am Ende sei alles Wind und nichts, weder der Status noch das Geld spielten eine Rolle. "Nur die Moral", sagt Klitschko. Seitdem der Krieg ausgebrochen ist, mache er jeden Tag Sport: Hilft gegen den Stress. Könne er jedem empfehlen. Ach, und wenn er noch etwas durchs Boxen gelernt hat, dann das: "Face the Challenge", stelle dich der Herausforderung.