Die Wahl eines Politikers der rechtsextremen NPD zum Ortsvorsteher im hessischen Wetteraukreis mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP schlägt auch bundespolitisch hohe Wellen. CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte am Sonntag im ARD-"Sommerinterview", die Wahl des NPD-Funktionärs Stefan Jagsch zum Ortsvorsteher des Ortsteils Waldsiedlung in Altenstadt müsse rückgängig gemacht werden. Ähnlich äußerte sich SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Der Vorgang sei "unfassbar und mit nichts zu rechtfertigen".
In den Medien wird die Wahl unterschiedlich gewertet. Während einige kritisieren, dass die Republik allgemein nach rechts rückt, sehen andere Stimmen eine Ursache darin, dass es auf lokaler Ebene an politischem Engagement mangelt - Auszüge aus dem Kommentaren deutscher Zeitungen:
"Frankfurter Rundschau: "Es geht nicht nur um einen Ortsbeirat in der Wetterau. Es geht um das Klima in diesem Land. Wie es so weit kommen konnte? Es gibt viele Gründe. Fernsehsender wie ARD und ZDF laden AfD-Politiker in Talkshows ein und vermitteln so, rechte Hetze sei eine ganz normale politische Meinung. Der Fußballverein Schalke 04 lässt es zu, dass Clemens Tönnies Aufsichtsratsvorsitzender bleibt, obwohl er schlimmsten Rassismus in die Öffentlichkeit getragen hat. Innenminister Herbert Reul (CDU) aus Nordrhein-Westfalen will die Polizeibehörden immer die Nationalität von Tatverdächtigen nennen lassen. Und das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie rechtes Gedankengut immer weiter salonfähig gemacht wird. Wir können so weitermachen. Aber dann wird es nicht mehr lange dauern, bis nicht nur ein Ortsbeirat von Menschen geführt wird, die unsere Gesellschaft zerstören wollen."
"Westfalen-Blatt:" Als ob CDU, SPD und FDP nicht Probleme genug hätten, müssen sie sich jetzt mit einem Politikskandal aus der Provinz herumschlagen. Die einstimmige Wahl des NPD-Politikers Stefan Jagsch zum Ortsvorsteher sorgt bundesweit für Empörung. Zu Recht, handelt es sich hier doch um eine beispiellose Instinktlosigkeit. Leider kann man den Mitgliedern des Ortsbeirates im hessischen Altenstadt nicht mal zu Gute halten, dass sie "nur ehrenamtlich" Politik machen. Denn für den Umgang mit NPD-Politikern - erst recht dieses Kalibers - muss man weder Berufspolitiker sein noch Politikwissenschaften studiert haben. Hier hätte gesunder Menschenverstand genügt oder - wo dieser fehlt - ein gutes Gedächtnis. Denn erst 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der NPD Verfassungsfeindlichkeit bescheinigt.
"Wiesbadener Kurier": Ortsbeiräte aus FDP, SPD und CDU haben in unfassbarer Naivität den Heß-Verehrer und ehemaligen Landesvorsitzenden auf den Schild gehoben. Die NPD verachtet diese "Systemparteien", die "allesamt gegen Deutschland sind und deshalb gehören sie und deren Anhänger entsprechend behandelt". Von wem die Weisheit stammt, ist nicht geklärt, aber sie trifft zu: "Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber."
"Traurig ist, was da für Gründe genannt wurden"
"Nordwest-Zeitung": Es waren also nicht etwa diese NS-verseuchten Ossis, die da einen echten Nazi ins Amt gehoben haben. Nein, die Wetterau befindet sich ja in einem staatsbürgerlich gefestigten Altbundesland! Was ist nur mit den (Selbst-)Gerechten passiert, die nach der Sachsen-Wahl ihre Empörung so gar nicht zu zügeln vermochten? CDU, SPD und FDP versuchen seit Jahr und Tag, einen Cordon sanitaire um die AfD zu ziehen - und nun helfen ihre Vertreter einem NPD-Mann in den Sattel, der namentlich im Verfassungsschutzbericht auftaucht. Doch Ironie beiseite: Traurig ist, was da für Gründe genannt wurden. Die Rede war davon, es habe keinen anderen Kandidaten gegeben. Das ist ein übler Beleg, wie dünn das Engagement an der kommunalpolitischen Basis inzwischen vielerorts geworden ist. Das aber unterminiert die Demokratie.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Die unbedachte Wahl eines NPD-Funktionärs zum Ortsvorsteher eines Ortsteils in der Wetterau wird die demokratische Ordnung der Bundesrepublik nicht zum Scheitern bringen, und nach dem Sturm der Entrüstung, der am Wochenende über die Mitglieder des kleinen Gremiums hinwegfegte, ist auch kaum anzunehmen, dass der Rechtsextremist die Vorzüge dieses Amtes wird lange genießen können. So einzigartig dieser Vorgang glücklicherweise ist, so sehr verweist er jedoch auf grundlegendere Schwierigkeiten, vor allem darauf, was geschehen kann, wenn sich Bürger zwar mehr und mehr echauffieren, aber zugleich immer weniger engagieren.
Die Äußerungen vom Wochenende deuten darauf hin, dass es schon schwer genug gewesen war, genügend Kandidaten für die Arbeit in dem Stadtteilgremium zu finden. Zugleich zeigen sie auch, dass die sicherlich erfahreneren Politiker ein und zwei Ebenen höher, in Altenstadt und im Wetteraukreis, nicht übersahen, was sich in den feinen Verästelungen des ihnen anvertrauten politischen Betriebs abzeichnete. Man kann ihnen das vorwerfen, doch muss ihnen auch zugute gehalten werden, dass Kommunalpolitik durchweg im Ehrenamt bewältigt wird. Setzen sich immer weniger Bürger für das Gemeinwesen ein, so sinkt zwangsläufig die Professionalität. Nicht zwangsläufig des einzelnen Politikers, wohl aber die des gesamten Apparates. (...).