Um den Kreml da zu treffen, wo es ihm wirklich weh tut – nämlich am Gelbeutel – hat der Westen Sanktionen in nie dagewesener Härte verhängt. Maßnahmen, vor denen sich nicht zuletzt die Bundesregierung seit Jahren weggeduckt hat, sind binnen Tagen Realität geworden – allen voran das vorzeitige Aus für die Gaspipeline Nord Stream 2.
Doch was, wenn Russland und der Westen die Rollen tauschen? Was, wenn der Kreml selbst Deutschland und Europa den Gashahn zudreht? Ein Szenario, das noch bis vor Kurzem undenkbar schien, hat inzwischen bedrohlich klare Gestalt angenommen. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie wichtig die Vorbereitung auf den Ernstfall ist – egal, wie unwahrscheinlich er auch sein mag.
Um den Drohungen aus Moskau und dem Abgleiten in eine Energiekrise zuvorzukommen, diskutiert die Bundesregierung, wie Deutschland kurzfristig unabhängig von russischen Öl- und Gaslieferungen werden kann. Eine Option drängt sich dabei besonders schnell auf: Warum nicht zurück zur Kernenergie? Was auf den ersten Blick verlockend wirkt, ist beim näheren Hinsehen ein Nullsummenspiel – wenn überhaupt.
Russland verdient täglich 368 Millionen Euro mit Erdgaslieferungen an die EU
Russland ist weiterhin der wichtigste Energielieferant für die Bundesrepublik. 2020 importierte Deutschland 56,3 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas – mehr als die Hälfte der Gesamtimporte. Hinzukamen rund 28 Millionen Tonnen russisches Rohöl, was einem Drittel aller Importe entspricht. Kein Wunder also, dass Deutschland den russischen Energiesektor bislang von den Sanktionen ausgenommen hat. "Die Versorgung Europas mit Energie für die Wärmeerzeugung, für die Mobilität, die Stromversorgung und für die Industrie kann im Moment nicht anders gesichert werden", erklärt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Allerdings sichern die Energieexporte dem ansonsten inzwischen weitgehend isolierten Kreml die für die Invasion im Nachbarland dringend benötigten Einnahmen. Weiterhin verdient Russland 368 Millionen Euro mit Erdgaslieferungen an die EU – pro Tag.
Denkbar wäre ein Importstopp dennoch – zumindest teilweise. Laut der Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) könnte die Bundesrepublik zumindest auf russische Kohle und Rohöl verzichten – denn hier gebe es mit Saudi Arabien, den Vereinigten Arabischen Emirate sowie den wachsenden Ölschiefersektor in den USA Alternativen.
Ende der letzten Kernkraftwerke in Deutschland steht bevor
All' diese Überlegungen setzen allerdings voraus, dass die Entscheidung, sich von der russischen Energie loszusagen, allein beim Westen liegt. Was aber, wenn Putin selbst den Gashahn zudreht? Am Montag warnte Russlands Vize-Regierungschef Alexander Nowak davor, dass Moskau die Gas-Lieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 einstellen könnte.
Deutschland und die EU müssen Lehren aus der zuletzt bewiesenen russischen Unberechenbarkeit ziehen: Falls die ohnehin schon in die Höhe geschossenen Energiepreise zur handfesten Krise ausarten, gilt es, vorbereitet zu sein. Dass Atomkraft der Weg zur Energieunabhängigkeit sein könnte, lässt sich aber zumindest bezweifeln.
Die drei letzten verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland (Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2) produzierten laut Bundeswirtschaftsministerium 2019 immerhin noch fast zwölf Prozent des deutschen Stroms. Im Vergleich zu 1990 ist die Stromerzeugung durch Kernenergie in Deutschland um mehr als 55 Prozent gesunken. Das Zeitalter der Atomenergie neigt sich hierzulande endgültig dem Ende zu: Die letzten drei Akw sollen Ende 2022 vom Netz gehen.
Verlängerung der Atom-Laufzeiten rechne sich nicht
Die Überlegung, dass eine Verlängerung der Laufzeiten die Antwort auf russische Drohungen sein könnte, haben das Wirtschafts- und Umweltministerium schnell ad acta gelegt. Unter anderem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte dies gefordert.

Längere Laufzeiten seien weder sinnvoll noch vertretbar, sagte Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne). Einem kleinen Beitrag zur Energieversorgung stünden große wirtschaftliche, rechtliche und sicherheitstechnische Risiken entgegen." Außerdem dauere die Beschaffung, Herstellung und atomrechtliche Freigabe zur Herstellung neuer Brennelemente für einen funktionsfähigen Reaktorkern im Regelfall 18 bis 24 Monate. Neben dem Aufwand für den Weiterbetrieb kämen auch die hohen Kosten für die Entsorgung zusätzlicher Mengen radioaktiver Abfälle hinzu.
Das einmal außer Acht gelassen: Eine Verlängerung der Laufzeiten würde im Winter 2022/2023 keine zusätzlichen Strommengen bringen, sondern frühestens im Herbst 2023 nach erneuter Befüllung mit neu hergestellten Brennstäben, so die Ministerien. Auch aus Sicherheitsgründen wäre eine Verlängerung nicht tragbar – die drei verbliebenen Akw sind seit über dreißig Jahren in Betrieb. Außerdem: Die Akw könnten auf Basis des geltenden Atomgesetzes nicht über dieses Jahr hinaus betrieben werden. Es wäre eine Änderung des Gesetzes notwendig und eine Zuteilung neuer Strommengen. Kurzum: Es rechnet sich vorne und hinten nicht.