Die Deadline rückt näher. Bis Ende Oktober brauchen die Betreiber der noch in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke eine Entscheidung: Abschalten oder am Netz lassen? Denn RWE, PreussenElektra und EnBW müssen Technik und Personal auf einen möglichen Weiterbetrieb vorbereiten.
Eigentlich ist der Atomausstieg zum 31. Dezember 2022 beschlossene Sache, doch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft auch dieses Gewissheit über den Haufen. Entscheiden muss am Ende der Bundestag, ob die Meiler weiterlaufen dürfen – und dessen letzte Sitzung im Oktober ist am 21. Oktober, Freitag in vier Tagen.
Atomstreit mit verhärteten Fronten in der Ampel
Die Ausgangslage ist damit klar – und die Fronten sind es auch. Denn von einer Einigung in der Atomfrage ist die Ampel weit entfernt, allen Krisentreffen der vergangenen Tage zum Trotz.

Der auf dem Tisch liegende Vorschlag von Bundesenergieminister Robert Habeck (Grüne) sieht vor, das Kernkraftwerk Emsland (Niedersachsen) zum Jahresende runterzufahren und die beiden Meiler Isar 2 (Bayern) und Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) bis Mitte April 2023 als Reserve für den Notfall vorzuhalten. Dies sei bereits ein "guter Kompromiss", so Co-Parteichefin Ricarda Lang. Für die Grünen, zu deren Gründungsidealen der Kampf gegen die Atomkraft gehört, sei aber eines ausgeschlossen: der Kauf neuer Brennelemente. Dies sei "die rote Linie", sagte Lang dem "Spiegel".
FDP ringt um ihr Profil, Grüne mit ihrer Geschichte
FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner versucht, insbesondere nach der vergeigten Niedersachsenwahl, das Profil seiner Partei zu schärfen – und hat offenbar vor, dies auch auf dem Feld der Atomenergie zu tun. Die Liberalen fordern den Weiterbetrieb aller drei Kernkraftwerke – und zwar sogar bis ins Jahr 2024 mit neuen Brennelementen. Auch die Reaktivierung bereits stillgelegter Meiler ist für die Partei eine Option.
Und die SPD? Die Sozialdemokraten geben sich in der Frage – je nach Betrachtungswinkel – diplomatisch bis beliebig. Co-Parteichef Lars Klingbeil sagte am Donnerstag bei "Markus Lanz" im ZDF, er blicke "auf das Thema der Atomenergie sehr pragmatisch und unideologisch".
So wollen andere EU-Länder die Energiekosten drücken

Auch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sind in der Diskussion wenig klare Worte zu hören. Er ist – wie so oft – damit beschäftigt zwischen Lindner und Habeck, zwischen FDP und Grünen, zu vermitteln. Sein Sprecher Steffen Hebestreit sagte, "dass man in der Bundesregierung dabei ist, diese Frage gemeinsam und abschließend zu klären".
Welche Lösung gibt es im Streit um die Atomkraftwerke?
Grüne und Liberale bemühen sich ebenfalls, den Konflikt herunterzuspielen und verbreiten vorsichtigen Optimismus. FDP-Vize Wolfgang Kubicki erklärte in der vergangenen Woche bei "Maischberger" in der ARD: "Keine Sorge, wir werden uns einigen." Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sagte am Sonntagabend im ARD-"Bericht aus Berlin", die Koalition habe oft wieder miteinander gerungen, auch öffentlich, sei aber immer in der Lage gewesen, eine Einigung zu finden. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass das auch wieder gelingt."
Die Positionen wirken festgefahren. Die große Frage in der Hauptstadt ist: Wie könnte eine Lösung im Ampel-Atomstreit aussehen? Fest steht: Sowohl FDP als auch Grüne brauchen einen Erfolg, gleichzeitig muss aber auch eine der beiden Parteien bereit sein, über ihren Schatten springen. Eine vertrackte Lage, die zu vielen Spekulationen einlädt.
Laut "Bild"-Zeitung sind in der Ampel vor allem zwei Möglichkeiten im Gespräch: Alle drei Atomkraftwerke produzieren so lange Strom, bis alle Brennelemente verbraucht sind. Dies könne im Herbst 2023 der Fall sein. Oder aber: Eines der Kraftwerke läuft über den Jahreswechsel hinaus weiter, ein anderes wird als Reserve vorgehalten und erst im kommenden Herbst wieder Strom produzieren.
Kaum Verhandlungsspielraum für Habeck
Viel Verhandlungsspielraum hat Habeck nicht. Der Grünen-Parteitag hat dem Kauf neuer Brennelemente eine Absage erteilt (Stichwort: "rote Linie") und will den Reservebetrieb von Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April 2023 begrenzen. Damit sind die Grünen eigentlich schon über ihren Schatten gesprungen. Doch reicht das?
Wenn sich Lindner und die FDP nicht durchsetzen können und es im Winter auch nur temporär und lokal begrenzt einen Stromausfall geben sollte (egal aus welchem Grund), dürften die Liberalen dies den Grünen anlasten – und das wissen auch Lang, Habeck und Co.
Möglicherweise läuft der Streit auch auf einen anderen Deal hinaus, der bereits im Sommer diskutiert wurde: Wir produzieren so viel Strom wie möglich und lassen dafür auch die Atomkraftwerke vorerst am Netz – gleichzeitig werden aber auch die Anstrengungen zum Energiesparen verstärkt. Und dazu könnte auch ein Tempolimit auf den Autobahnen wieder auf die Tagesordnung kommen – noch so ein Symbolthema. Doch das wiederum werden Lindner und die FDP nicht mit sich machen lassen (Stichwort: "Profil schärfen"); es würde ein neuer Konflikt in der Ampel drohen.
Mehrheit ist für Weiterbetrieb der AKW
Wann die Verhandlungen zwischen Scholz, Lindner und Habeck weitergehen, ist unklar. Zunächst hieß es, dass sich die drei Politiker schon an diesem Montag wieder treffen. Nun war aus Regierungskreisen zu erfahren, dass es doch kein Spitzentreffen geben soll. Möglicherweise haben Habeck und Lindner noch Klärungsbedarf mit ihren Parteien. Wie Scholz und seine beiden Minister eine Lösung finden wollen, ist weiterhin völlig offen. Vielleicht blicken sie bei ihrer Suche auch auf das, was die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland erwarten.
In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Nachrichtenagentur DPA können sich 56 Prozent der Befragten einen Betrieb der Atomkraftwerke auch über das Jahr 2024 hinaus vorstellen oder sind sogar dafür. Von den insgesamt 2027 Befragten erklärten 19 Prozent, die deutschen Atomkraftwerke sollten "unbegrenzt" weiterlaufen, weitere 37 Prozent gaben an, deutsche AKW sollten auch über 2024 hinaus weiterlaufen, "wenn es die Energiekrise erfordert". Rund jeder Dritte ist für eine klare Befristung der Laufzeiten. So sprachen sich 12 Prozent für einen Betrieb bis höchstens Ende 2024 aus. Dies entspricht im Wesentlichen der Position der FDP, die auf einen Weiterbetrieb aller drei verbliebenen AKW bis ins Jahr 2024 dringt. 14 Prozent plädierten für eine Weiternutzung in diesem Winter bis April 2023 – quasi für das Grünen-Modell. Weitere zehn Prozent der Befragten meinten, deutsche Atomkraftwerke sollten wie im Atomausstieg vorgesehen bis zum Jahresende vom Netz gehen – das wäre das schlimmste Szenario für die Ampel – doch es droht, wenn es keine Einigung geben sollte und der Bundestag am Ende nichts entscheiden würde.
Olaf Scholz ließ am Montagmorgen über eine Sprecherin verbreiten, man sei auf dem Weg zu einer Einigung. Er sei sehr zuversichtlich, dass das in "Kürze" gelingen werde. Auch Scholz weiß: Die Deadline rückt näher.
Quellen: Bundestag, "Spiegel" (kostenpflichtiger Inhalt), "Markus Lanz", "Maischberger", "Bericht aus Berlin", "Bild"-Zeitung, Nachrichtenagenturen DPA und AFP