Zwischenruf Die Lüge ist der Normalfall

Schwindel, Täuschung, Vertuschung, Irreführung: So unehrlich wie im Wahljahr hat sich die Politik in Deutschland noch nie gezeigt. Aus stern Nr. 1/2003

"Indem sie einander belügen, werden die Menschen zu etwas anderm, als sie sind; man verkehrt schließlich nur mit Charaktermasken und Gespenstern." August Strindberg

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ie Wahrheit macht den Skandal, nicht die Lüge. Denn die Wahrheit ist wie ein Ölfleck auf dem Meer der Lüge - beunruhigend, störend, peinlich. Ganze fünfmal kam es im zurückliegenden Jahr zu solchen Wahrheitspannen im deutschen Politikbetrieb - und jedes Mal reagierten die Betriebsingenieure der Vernebelungsmaschinen auf die gleiche Weise: konsterniert, empört, aggressiv.

Im März entlarvte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU), eine weiße Krähe auf dem Acker der Politik, das Halligalli seiner Parteifreunde nach dem gezinkten rot-grünen Zuwanderungserfolg im Bundesrat als das, was es war - "legitimes Theater": "Die dort geäußerte Empörung entstand nicht spontan. Die Empörung haben wir verabredet." Die Empörten waren außer Rand und Band: Wie kann einer nur so dämlich sein, den Schein des Gerechten zu zerstören!

Im Juni nannte der CSU-Sozialpolitiker Horst Seehofer, durch lange Krankheit der Lüge entwöhnt, mitten im Wahlkampf eine Rentenbeitragserhöhung um 0,4 bis 0,5 Prozent "unvermeidlich". Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, vor der Presse neben ihm stehend, war wie vom Blitz getroffen. "War dir das nicht recht, was ich gesagt habe?", fragte ihn auch noch, hinreißend naiv, sein Kompetenz-Kandidat. Verschleierungsrhetorik war die Antwort.

Im November stürzte der von den Grünen geschasste Haushaltsexperte Oswald Metzger die rot-grüne Welt in Panik, als er eine Verschwörung der Koalitionsspitzen anprangerte, vor der Wahl das "desaströse Finanzloch im Bundeshaushalt" zu vertuschen: "In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter regieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit." Metzger wurde zum Paria in den eigenen Reihen: "Wichtigtuer", "Besserwisser", "gekränkte Eitelkeit" rief man ihm nach. "Verräter" wagte niemand zu sagen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Im Dezember stellte der Grüne Werner Schulz, als Bürgerrechtler aus dem Osten notorisch aufrecht, das Herrschaftssystem Joschka Fischers bloß. Auf dem Hannoveraner Parteitag der Grünen berichtete er vor laufenden Kameras, die Joschka-gläubige Renate Künast habe das Regiment der Fischer-Gang im Wahlkampf - an allen Parteigremien vorbei - als "Diktatur auf Zeit" verteidigt. Auf dem Plenum der Basisdemokraten war das so ähnlich, als habe jemand im Aufzug einen fahren gelassen. Renate Künast war giftig und angewidert.

Zur eigenen Hinrichtung treu gelogen

Im selben Monat verschaffte sich schließlich einer Genugtuung bei jenen, die eben noch über die geplatzten Lügen der anderen triumphiert hatten. Friedrich Merz schilderte in einem genussvoll angerichteten Interview, wie eiskalt ihn die CDU-Vorsitzende Angela Merkel als Fraktionschef im Bundestag abserviert hatte. "Frau Merkel hatte meine Ablösung in den Wochen vor der Wahl, insbesondere in den Tagen vor der Wahl, mit fast allen Landesvorsitzenden der CDU besprochen." Das sei am Wahlabend also "nicht überraschend" für ihn gekommen. Damals indes hatte er zur eigenen Hinrichtung noch treu gelogen: Die Entscheidung zum Amtsverzicht habe er am Wahlabend "ohne jeden Druck" getroffen, zitierte ihn die "Financial Times Deutschland". Es folgte das übliche Programm: Merz wurde im CDU-Präsidium zusammengestaucht und verpflichtet, nie wieder derart parteischädigend die Wahrheit zu verbreiten. Frau Merkel präsentierte sich zähneknirschend, aber "fröhlichen Herzens".

So viel zu den wenigen Trophäen der Wahrheit bei unserer Kreuzfahrt übers Meer der Lüge. Wobei wir den Begriff nehmen wollen als Mutter vieler Kinder: Schwindel, Täuschung, Verstellung, Verdrehung, Vertuschung. Halbwahrheit, Schönfärberei, Irreführung, Betrug. Und, und, und. Wobei wir nicht päpstlicher sein wollen als der Papst: Die Lüge ist so alt wie die Politik. Sie klebt an ihr wie der Rüde an der läufigen Hündin. Politiker haben immer behauptet, der Wähler sei blöd und wolle betrogen werden. Doch so alarmierend wie in diesem Jahr war der Befund noch nie in der deutschen Nachkriegsdemokratie. Die Lüge ist der Normalfall der Politik geworden. Überall. Nichts scheint mehr authentisch, gerade heraus, frei von Winkelzügen. Was ein kleiner Streifzug durch die Lager belegen mag.

"Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat er?s. Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen!" Friedrich Nietzsche

An Rentenlügen, Steuerlügen, ja schamlos missbrauchte Ehrenworte erinnern wir uns aus der kurzen Geschichte dieser Republik. Nicht viele, aber einprägsame. Wir sind also längst keine Traumtänzer mehr. Dennoch haben uns die Unverfrorenheit und der Erfolg des Wahlmanövers der Regierung zunächst sprachlos gemacht. Es kann keinen Zweifel mehr geben: Bei der Vertuschung des desaströsen Zustandes von Staatskassen und Sozialsystemen handelt es sich um die größte Wählertäuschung der Nachkriegsgeschichte. Das Vorgaukeln eines nahenden Konjunkturaufschwungs, der alles in Butter wendet, war die Wurzel der klebrigen Wahlkampf-Blüten. "Der Aufschwung kommt. Die deutsche Wirtschaft gewinnt kräftig an Fahrt", verhieß der Kanzler im April in einer handsignierten SPD-Anzeige. Anfang Juli ging er in einer Regierungserklärung im Bundestag noch weiter: "Der Aufschwung hat bereits begonnen. Er gewinnt an Dynamik und erfasst immer mehr Branchen." Das Gegenteil war richtig.

Ein Strauß von Unwahrheiten

Daraus wuchs ein ganzer Strauß von Unwahrheiten, umso dichter, je näher der Wahltermin rückte. "Eine solche Beitragserhöhung kommt für uns nicht infrage", antwortete Arbeitsminister Walter Riester im Juni auf die Rentenwahrheit seines Kontrahenten Seehofer - siehe oben. "Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig, und deswegen ziehen wir sie auch nicht in Betracht", beruhigte Gerhard Schröder im Juli. "Die Krankenkassenbeiträge bleiben zum 1. Januar 2003 stabil", erklärte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, und die "Süddeutsche Zeitung" zog das schon im August in Zweifel. "Wir machen keine Schulden, das haben wir immer klar gemacht, wir weichen nicht in Schulden aus", versprach Finanzminister Hans Eichel im September. Und im selben Monat verkündete Schröder im stern-Gespräch: "Es ist nicht davon auszugehen, dass die Schuldenquote drei Prozent übersteigt." Von allem war auszugehen.

"Und niemand lügt soviel als der Entrüstete."

Friedrich Nietzsche

Von der Union skandalisiert wurde die Täuschung der Regierung freilich erst nach der Wahl - vor dem 22. September war man sich in heimlicher Kumpanei verbunden. Stoibers Entsetzen über den in die Wahrheit verirrten Seehofer erklärt alles. Hätte die Union die düstere Wirklichkeit beim Namen genannt, hätte sie ihr Wahlprogramm - Steuersenkungen, Familiengeld, Milliardenprojekte - einstampfen kön- nen. "Ich mache keinen Angstwahlkampf", sagte Stoiber in kleiner Runde. Denn Kassandra, das glaubt man zu wissen, wird nicht gewählt. Also Doppelstrategie: Die vortrefflich informierten Experten der CDU, wie ihr Haushaltsfachmann Dietrich Austermann, geißelten die desolaten Staatsfinanzen; Edmund Stoiber und Angela Merkel taten so, als hörten sie das nicht. Dies erklärt auch, warum der Kandidat so ermüdend nur von Schröders vier Millionen Arbeitslosen sprach, mit keinem Wort aber Milliardenlöcher, Renten- und Kassenbeiträge erwähnte.

Es war nicht die einzige Täuschung der Union. Schon Stoibers Nominierung als Kanzlerkandidat im Januar war eine einzige Seifenoper: Angela Merkel zum Frühstück in Wolfratshausen. "Aus tiefster Überzeugung" habe sie ihm dort das Amt angetragen, erklärte sie anschließend. Die Wahrheit war, dass sie gar nicht anders konnte, wollte sie nicht einen Aufstand der eigenen Partei gegen ihre Kandidatur riskieren. Und dann Stoiber - eine grandiose Schminkleistung! Politisch so soft, dass sich der Kandidat des Friedens in einer RTL-Sendung direkt vor der Wahl, bedrängt durch die Frage, ob er den USA bei einem Angriff auf den Irak Deutschland als "strategischen Stützpunkt" zur Verfügung stellen würde, erschrocken antwortete: "Mit Sicherheit niemals bei einem Alleingang der Amerikaner." Ebenso erschrocken dementierte ihn postwendend - und ohne Rücksprache - sein Medienberater Michael Spreng in "Spiegel online": Es handele sich um ein Missverständnis, nach dem Nato-Truppenstatut dürften die Amerikaner natürlich über die Nutzung ihrer deutschen Stützpunkte selbst entscheiden.

"Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert - mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen."

Friedrich Nietzsche

Die Grünen wurden als Partei der Wahrheit gegründet - gegen die Lebenslügen der anderen. Bis zu ihrer Ankunft in der so genannten Realität haben sie in kürzester Zeit den weitesten Weg zurückgelegt. Heute erinnern sie an die "Partei der institutionalisierten Revolution" in Mexiko, in der die soziale Revolution zur autoritären Herrschaft pervertierte. Die Grünen könnten sich "Partei der institutionalisierten Wahrheit" nennen. Nichts mehr ist dort echt und ehrlich - der verlogene Kampf um die gescheiterten Vorsitzenden Fritz Kuhn und Claudia Roth ist der frischeste Beleg dafür.

Die Aufgabe ihres Bundestagsmandats zugunsten des Parteivorsitzes wäre gegenüber ihren Wählern "völlig unmöglich", sülzte die auf der bayerischen Landesliste ins Parlament gerutschte Claudia Roth. In Wahrheit strebten die beiden Vorsitzenden zu den Diäten und zur prächtigen Alterssicherung der Abgeordneten. Folglich diskutierten die Grünen an der Basis auch alternativ über eine bessere Bezahlung ihrer Parteichefs. Und Fritz Kuhn gestand das Motiv sogar einmal unumwunden ein: "Reichtum definiert sich für mich nicht nur über das Bankkonto. Richtig ist aber auch, dass wir als Vorsitzende vergleichsweise wenig verdienen." Richtig ist zudem, dass es natürlich auch darum ging, zwei weitere Handpuppen Joschka Fischers in der Fraktion tanzen zu lassen. Und dass die ganze Partei nur noch einem dienen sollte: IHM, den sie Gottvater nennen und als Götzen anbeten.

"Lügen ist ein Sprachspiel, man muss es lernen wie jedes andere."

Ludwig Wittgenstein

Niemand in der Politik spielt so virtuos mit Sprache wie Gregor Gysi. Als der PDS-Heroe zur öffentlichen Verblüffung im August wegen eines läppischen Bonusmeilen-Flugs vom anstrengenden Amt des Bürgermeisters und Wirtschaftssenators der katastrophal verschuldeten Hauptstadt zurücktrat, legte er eine Begründung aufs Parkett, die schwindelig machte. Er sei "gedankenlos einer Fehlinformation" aufgesessen - sprich: unschuldig -, wolle mit der Demission auch "keinen Maßstab setzen" für andere, da die Debatte um die Bonusmeilen ja zeige, "dass die Maßstäbe völlig verschoben sind". Und dann die Super-Volte: Wenn er die Bonusmeilen privat genutzt hätte "in dem Wissen, dass es verboten ist, dann könnte ich anders damit umgehen". Mit anderen Worten: Hätte er bewusst betrogen, wäre er im Amt geblieben. Das ist immerhin nicht völlig ausgeschlossen, denn als im Sommer bekannt wurde, dass auch Gregor Gysi an einem jener rentablen Prominenten-Fonds beteiligt war, welche die Berliner Bankgesellschaft mit in den Abgrund gerissen haben, da gab er die Anteile zwar zurück, dachte aber gar nicht an Rückzug aus der Politik. Die Wahrheit quoll aus einem Dementi: "Ich war überhaupt nicht amtsmüde." Na ja, nun muss er nachts um drei nicht mehr Akten lesen, der Gute.

"Fuß und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander lügen strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten."

Friedrich Nietzsche*

Faust und Augen logen, dass Connaisseure mit der Zunge schnalzten, als sich Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann am 10. Juni im FDP-Präsidium neckten wie der Hai den Hering. Es war der vorläufige Höhepunkt ihres Kampfs um die Macht bei den Liberalen, ausgetragen auf der Walstatt des Antisemitismus. Die Szene gab die Bildlüge des Jahres ab: Westerwelle - he, Kumpel! - beugt sich zu Möllemann hinüber, die Zähne zum Killergrinsen gebleckt, und knufft ihn mit der Faust am Arm. Möllemann läuft rot an vor verschluckter Aggression und killerbleckt zurück. Über den Fall braucht nicht viel mehr berichtet zu werden: Gestückelte "Spenden", Falschnamen und erfundene Dankesbriefe säumen die liberale Allee der Lügen. Und Möllemann, Hut ab!, geht damit ja auch herzerfrischend offen um. "Wir drei am Tisch hier haben alle noch nicht gelogen, gell?", verblüffte er zwei Journalisten beim ARD-Interview.

Das Gewand des Ehrlichen

Das kecke "gell" ist das Warnsignal am Ende des Jahres der Lügen. Geradezu aberwitzig, wenn ausgerechnet der Urheber im neuen Jahr daherkäme, um sich in einer eigenen Partei das Gewand des Ehrlichen überzustreifen und die von politischer Lüge angewiderten Wähler in einen vorgeblich gerechten Kampf zu führen. Der falsche Gestus der Wahrhaftigkeit wäre die größte aller Lügen.

*Die Zitate sind dem von Steffen Dietzsch herausgegebenen Buch "Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge" entnommen. Insel-Verlag, Frankfurt, 2000, 97 Seiten, 11,80 Euro

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Hans-Ulrich Jörges

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