Dienstag, 18. Oktober 1977. "Null Uhr achtunddreißig. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden." Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim elektrisierte diese Radiomeldung den Justizassistenten Hans Rudolf Springer. Er lief aus seiner Wachkabine in den hinteren Flügel und stellte sich vor das Gitter zum Zellenflur. Hier saßen die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller ein. Nichts. Kein Laut. Springer ging wieder in seine Kabine und beobachtete weiter die Videomonitore, die den leeren Zellenflur zeigten.
Kein Radio, keine Post, keine Anwaltsbesuche
Seit 44 Tagen schon war Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in der Gewalt eines Entführungskommandos der "Rote Armee Fraktion" (RAF). Und fünf Tage zuvor hatten palästinensische Terroristen den Lufthansa-Jet "Landshut" auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt gekapert und nach Mogadischu in Somalia umgeleitet. An Bord: 82 Urlauber und die fünfköpfige Besatzung. Der Flugkapitän Jürgen Schumann war bei einer Zwischenlandung erschossen worden. Mit den Terroraktionen sollten zehn RAF-Gefangene - darunter auch die vier Stammheimer - freigepresst werden. Die durften seit dem 5. September, 20 Uhr, kein Radio hören, keine Post, keine Anwaltsbesuche mehr bekommen - der "Große Krisenstab" im Bonner Kanzleramt hatte eine Kontaktsperre verhängt.
Nach der Schleyer-Entführung war die größte Polizeiaktion der deutschen Nachkriegsgeschichte angelaufen: Straßensperren, Wohnungsdurchsuchungen, Kontrollen. Überall patrouillierten bewaffnete Polizisten, fuhren Panzerwagen auf. Der Staat ließ die Muskeln spielen, der Deutsche Herbst veränderte die Republik.
7.41 Uhr. Justizobersekretär Gerhard Stoll schließt die Zelle 716 auf. Er und Hauptsekretär Willi Stapf wollen dem Häftling Jan-Carl Raspe das Frühstück bringen. Vorher haben sie die mit Schaumgummi gepolsterten Schallschutzplatten vor den Zellentüren entfernt. Die Polster sollen nachts Rufkontakte zwischen den Gefangenen verhindern. Stoll schaut in die Zelle und weicht zurück. "Hier ist etwas passiert." Raspe, auf seinem Bett halb aufrecht gegen die Wand gelehnt, röchelt. Aus seiner Schläfe läuft Blut, an den Augen hat er kinderfaustgroße Blutergüsse. Der schwer verletzte Gefangene wird gegen 8 Uhr mit einem Unfallwagen ins Stuttgarter Katharinenhospital gebracht, wo er um 9.40 Uhr stirbt.
Um 8.07 Uhr öffnen Beamte die Zelle 719. Andreas Baader liegt auf dem Boden, den Kopf in einer Blutlache. Erschossen.
In Zelle 720 hängt Gudrun Ensslin am Gitterrost des rechten Zellenfensters. Um ihren Hals ist das Kabel ihrer Lautsprecherboxen geschlungen. Auch sie ist tot. Irmgard Möller liegt in Zelle 725 zusammengekrümmt auf ihrer Matratze, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Ein Sanitäter entdeckt vier Stiche in der Herzgegend. Neben der Matratze: ein blutverschmiertes Anstaltsmesser, oben abgerundet, mit Wellenschliff. Möller wird durch eine Notoperation gerettet. Bundeskanzler Helmut Schmidt bespricht die Lage in einer Sondersitzung des Kabinetts. Wenig später brennen die Niederlassungen deutscher Firmen, werden deutsche Flaggen angezündet. Laut Blitzumfragen glauben Millionen von Italienern, Franzosen und Holländern, die Stammheimer Häftlinge seien ermordet worden.
Was geschah vor 25 Jahren?
Die Todesnacht von Stammheim: Was vor 25 Jahren in diesem Gefängnis geschah, ist bis heute nicht ganz geklärt. Ermittlungspannen, Vertuschungsmanöver, haarsträubende Schludrigkeiten und Versäumnisse lieferten Stoff für teilweise abenteuerliche Spekulationen und Legenden. Weil Sand an den Schuhen des toten Andreas Baader haftete, wurde gemutmaßt, er sei nachts nach Mogadischu geflogen worden, um den "Landshut"-Entführern seine Freilassung vorzugaukeln - und an Ort und Stelle durch Genickschuss hingerichtet worden. Weil im Gefängnishof angeblich drei schwarze Limousinen gesichtet worden waren, habe ein heimlich eingeschleustes israelisches Spezialkommando die RAF-Leute ermordet.
Mord oder Selbstmord? Neue stern-Recherchen nähren den Verdacht, dass es ein staatlich geduldeter Selbstmord war. Es gibt handfeste Indizien, dass mindestens einzelne Beamte aus dem Sicherheitsapparat bereits vor der Todesnacht von den Waffen in den Zellen wussten - womöglich sogar, in welchen Zellen sie wo versteckt waren. Und damit den kollektiven Suizid hätten unterbinden können, wenn die Pistolen sichergestellt worden wären.
Eine entscheidende Rolle spielte dabei das ehemalige RAF-Mitglied Volker Speitel. Speitel hatte nach eigener Aussage vor seiner Festnahme die Pistolen den Anwälten Arndt Müller und Armin Newerla in deren Handakten appliziert. Müller und Newerla, die das bis heute bestreiten, hätten sie so an den Kontrollen vorbei in den Knast schmuggeln können. Speitel arbeitete damals in der Kanzlei des Stuttgarter Anwalts Klaus Croissant, die als Brückenkopf der RAF nach Stammheim galt.
Angedeutete Selbstmordabsichten
Selbstmordabsichten hatten die Gefangenen wiederholt angedeutet, sowohl dem Anstaltspersonal als auch den RAF-Genossen draußen. Allerdings legten sie auch Mordspuren. So sagte Gudrun Ensslin in einem Gespräch mit den beiden Anstaltsgeistlichen am 17. Oktober, dass sie "vernichtet oder hingerichtet" werden könnten - "nicht irgendwie von hier aus dem Haus. Die Aktion kommt von außerhalb. Wenn wir hier nicht rauskommen, dann geschehen schreckliche Dinge". Dass sich die Häftlinge absprechen konnten, ist belegt: In Raspes Zelle wurde ein Transistorradio gefunden, mit dem er offenbar die Meldung von der Erstürmung der "Landshut" empfing. Über eine selbst gebastelte "Gegensprechanlage" konnte er seine Genossen informieren.
Der Kronzeuge Speitel wurde belohnt. Nach kurzer Haftstrafe verschwand er am 1. September 1979 im Zeugenschutzprogramm des BKA - ausgestattet mit einem fürstlichen Handgeld. Wofür?
Noch am 18. Oktober gab Baden-Württembergs Justizminister Traugott Bender die offizielle Todesversion bekannt: Selbstmord. Am 18. April 1978 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren ein - weil "die Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich selbst getötet haben, die Gefangene Möller sich selbst verletzt hat und eine strafrechtliche Beteiligung Dritter nicht vorliegt".
1980 deckte der stern eine Reihe von Schlampereien und Widersprüchen auf (Nr. 45/1980: "Der Fall Stammheim") und forderte neue Ermittlungen. Die vier wichtigsten Merkwürdigkeiten:
Die kriminalpolizeiliche
"Sonderkommission Stammheim" hatte nie geprüft, ob die drei RAF-Anführer womöglich ermordet worden seien. Der damalige Leiter der Soko, Günter Textor: "Von der Staatsanwaltschaft haben wir keine entsprechenden, über den Selbstmord hinausgehenden Ermittlungsaufträge bekommen."
Zitat aus der staatsanwaltschaftlichen
Einstellungsverfügung im Fall Raspe: "Raspe muss den Schuss aus der neben ihm aufgefundenen Pistole in der sitzenden Haltung abgefeuert haben, in der er auf seiner Matratze entdeckt wurde. Neben seiner rechten Hand lag eine Pistole." Eigenartig: Zwei von vier Justizbeamten hatten am Morgen des 18. Oktober die Waffe in seiner Hand gesehen. Soko-Chef 1980 zum stern: "Immer wenn ein Selbstmörder die Waffe in der Hand hält, ist das natürlich ein Verdachtsmoment auf Mord."
Im Fall Gudrun Ensslin
wurde kein Histamin-Test veranlasst. Das Gewebshormon Histamin sammelt sich an den Strangulationsstellen, wenn ein Mensch sich selbst erhängt. Wenn ein Toter aufgehängt wird, um einen Selbstmord vorzutäuschen, fehlt dieser Histamin-Stau.
Irmgard Möller,
so die Staatsanwaltschaft damals, soll versucht haben, sich mit ihrem Frühstücksmesser zu töten - mit vier Stichen in die linke Brust. "Zwei davon waren etwa zwei Zentimeter tief, die anderen beiden etwa vier Zentimeter."
Merkwürdig: Professor Hans-Eberhard Hoffmeister, der Möller am 18. Oktober in der Tübinger Universitätsklinik operierte, stellte einen "ca. 7 Zentimeter" langen Stichkanal fest. Der Stich, so der Arzt, muss mit ziemlicher Wucht geführt worden sein, weil in der fünften Rippe eine mehrere Millimeter tiefe Einkerbung zu sehen war. Dieser tiefe Stich ist von der Staatsanwaltschaft nie erwähnt worden.
Irmgard Möller konnte oder wollte zum Tathergang nicht viel berichten: "Kurz nach fünf Uhr hörte ich es leise zweimal knallen, gedämpft. Jetzt meine ich, es waren Pistolenschüsse. Und ein leises Quietschen." Sie habe sich wieder hingelegt und sei eingeschlafen. "Das Letzte, woran ich mich erinnere, war ein starkes Rauschen im Kopf. Ich weiß nicht, was es war. Gesehen habe ich nichts. Ich wachte erst wieder auf, als mir die Lider hochgezogen wurden."
Textor blieb nach diesen stern-Recherchen hart: "Die Staatsanwaltschaft - die objektivste Behörde der Welt - hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen, und damit basta."
Tatsächlich? Was, wenn sich jetzt beweisen ließe, dass der Kronzeuge Speitel schon weit vor dem 18. Oktober 1977 über die Waffen und ihre Verstecke in den Stammheimer Zellen geplaudert hatte? Dass er womöglich schon als aktiver RAF-Kämpfer V-Mann und Agent der Sicherheitsbehörden war? Dass man von den Waffen im "Terroristentrakt" wusste? Und damit nicht nur in Kauf nahm, dass sich die Gefangenen töten konnten, sondern auch, dass die Wärter im 7. Stock in Lebensgefahr schwebten?
"Meistersänger" Speitel und Dellwo
Januar 1978. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann teilte vor dem Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtages und vor der Presse mit, die Waffen, mit denen sich die Häftlinge erschossen hätten, seien im Frühjahr 1977 von Rechtsanwalt Arndt Müller eingeschmuggelt worden. Zwei Untersuchungsgefangene, deren Namen er aus Sicherheitsgründen nicht nennen wollte, hätten wenige Tage zuvor in richterlichen Vernehmungen den Waffenschmuggel bestätigt. Die Zeugen waren die RAF-Kuriere Volker Speitel und Hans-Joachim Dellwo - in der Szene fortan als "Meistersänger" tituliert. Die beiden hätten erst nach dem 18. Oktober 1977, der Todesnacht von Stammheim, ihre Aussagen gemacht, betonte die Bundesanwaltschaft beharrlich. Eine Legende, wie sich später herausstellte.
Speitel war am 2. Oktober 1977 - 16 Tage vor der Todesnacht in Stammheim - im Skandinavien-Express kurz hinter der dänisch-deutschen Grenze in Puttgarden verhaftet worden. Er war in Kopenhagen gewesen, um eine Protestaktion gegen die Kontaktsperre in deutschen Haftanstalten zu organisieren. Der damals 27-Jährige musste wissen, dass die Polizei an der Grenze auf ihn wartete. Zwei Tage zuvor hatte er bei einem Anruf im Stuttgarter Croissant-Büro erfahren, dass er per Haftbefehl gesucht werde. Bundesanwalt Joachim Lampe, so plauderte Speitel später offen aus, habe ihn bei einer anschließenden Vernehmung darauf hingewiesen, dass es "honoriert werden könnte, wenn ich aussage und andere belaste".
Der ehemalige Plakatmaler hatte allen Grund, auf das Angebot einzugehen. Schließlich war er im Jahr 1975 an den Vorbereitungen für den Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt und hatte später Kurierdienste für die RAF geleistet. Ebenso wie der zweite "Kronzeuge" Hans-Joachim Dellwo, genoss er Vorzugsbehandlung: Zwei Vernehmungen fanden nicht im Knast statt, sondern in einem Hotel mit Kaffee und Brötchen. "Locker und lose" sei "über dieses und jenes" gesprochen worden, bestätigte ein Kollege des Bundesanwalts Lampe vor Gericht.
Die Bundesanwaltschaft ist dabei offenbar erfolgreich gewesen. Drei Tage nach der Verhaftung Speitels wurde das Anwaltsbüro Croissant erneut durchsucht und dann versiegelt. Anlass war ein Hinweis des RAF-Helfers auf Aktenverstecke im Kopierraum der Kanzlei. Außerdem nannte Speitel einen Wohnkomplex in Köln-Meschenich, in dem der entführte Arbeitgeberpräsident Schleyer versteckt gehalten werde. Speitel wusste, dass in diesem Komplex eine konspirative Wohnung angemietet worden war - allerdings nicht, in welchem Block sie genau lag. Deshalb musste der gesamte Komplex durchkämmt werden. Drei Tage lang, vom 4. bis zum 6. Oktober - erfolglos. Bundesanwalt Lampe behauptete später hartnäckig, erst am 10. November von Speitel diesen Hinweis bekommen zu haben.
Verstrickung in Widersprüche
Die Ankläger aus Karlsruhe verhedderten sich häufiger in Widersprüche. Im Prozess gegen die RAF-Anwälte und angeblichen Waffenschmuggler Müller und Newerla sagte Lampe, sein erstes Gespräch mit Speitel habe eine Woche vor Auffinden der Leiche Schleyers stattgefunden - also vor dem 19. Oktober. Sein Kollege Krüger sagte dagegen, die Bundesanwaltschaft habe bereits vor der "Landshut"-Entführung erstmals mit Speitel gesprochen, also vor dem 13. Oktober.
Ominös auch ein anderer Vorfall: Andreas Baader und Gudrun Ensslin hatten um den 12. Oktober ein Gespräch mit dem damaligen Kanzleramtschef Dr. Manfred Schüler in Stammheim erbeten. Am 17. Oktober fuhr statt Schüler dessen Ministerialdirigent Hans Joachim Hegelau nach Stammheim. Aus einem späteren Bericht des BKA-Beamten Alfred Klaus, der Hegelau begleitet hatte: "Inzwischen ist bekannt geworden, dass Baader und Raspe im Besitz von Schusswaffen waren. Diese Tatsache begründet den Verdacht, dass sich hinter dem Wunsch der Gefangenen nach einem Gespräch zwischen Staatssekretär Schüler und Baader die Absicht einer Geiselnahme verbarg."
Mit ihm sei nie erörtert worden, dass er in Stammheim womöglich als Geisel hätte genommen werden können, sagt Schüler heute. Einzige Merkwürdigkeit, an die er sich noch erinnern kann: "Ich hatte schon gepackt und war abreisefertig, als es hieß, nicht ich solle nach Stammheim fahren, sondern Hegelau." Warum? Weil die Sicherheitsbehörden da bereits wussten, dass es Waffen in Stammheim gab - und Schüler auf Kosten eines nachgeordneten Beamten schützen wollten?
In vielen späteren RAF-Prozessen wurde Speitel als Hauptbelastungszeuge benannt, vor Gericht auftreten ließ ihn die Bundesanwaltschaft aber nie. Sie hielt ihn versteckt - aus Sicherheitsgründen, wie sie stets bekundete. Im März 1985 jedoch, während des Prozesses gegen die Schleyer-Entführer Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt, rückte sie plötzlich von der eigenen Legende ab, Speitel habe erst nach der Stammheimer Todesnacht "gesungen".
Überraschende Reaktion der Bundesanwaltschaft
Die Anwälte Elard Biskamp und Michael Schubert hatten darauf bestanden, dass Speitel als Zeuge erscheint. Sie konnten schlüssig vortragen, dass der "Meistersänger" schon kurz nach seiner Verhaftung Aussagen gemacht hatte. Die überraschende Reaktion der Bundesanwaltschaft: Die von den Anwälten "behaupteten Beweistatsachen können so behandelt werden, als wären sie wahr". Das Gericht folgte und lehnte den Antrag auf Ladung Speitels prompt ab. Unwidersprochen blieb die brisante Aussage der Klar-Verteidiger: "Niemand hätte es geglaubt, dass Speitel Angaben macht, ohne die Waffen im 7. Stock als sein schwerstes Geschütz - Waffen im Knast - zu offenbaren, was dann zwangsläufig zum Auffinden der Waffen in den Zellen geführt hätte."
Auch der frühere RAF-Mann Peter Jürgen Boock, der an der Schleyer-Entführung maßgeblich beteiligt war und Speitel die Stammheim-Waffen geliefert haben will, glaubt, dass Speitel damals die Bundesanwaltschaft über die Pistolen informiert hat. Boock zum stern: "Was hatte er zu bieten außer der Information über das Einschmuggeln der Waffen, was in einer solchen Situation zu seiner vergleichsweise schnellen Freilassung führte?"
Er, Boock, wie auch Speitel hätten nicht nur von den Selbstmordplänen der Gefangenen gewusst - sondern auch, wo sie die Pistolen versteckt hielten: "Für die Waffen und den Sprengstoff hatten die Stammheimer über Monate in verschiedenen Zellen des 7. Stocks Verstecke in den hohlen Rändern von Waschbecken und Toiletten, in den Bodenleisten der Zellen sowie in den ihnen genehmigten Schallplattenspielern angelegt. Keines dieser Verstecke, die - wenn auch in leerem Zustand - bereits einige Zellenkontrollen überstanden hatten, wurde in der Folgezeit entdeckt."
Besuch von BKA und BND
Der damalige Leiter der JVA Stammheim, Hans Nusser, bestätigt heute, dass nicht nur Beamte des BKA, sondern auch Agenten des Bundesnachrichtendienstes häufig im Gefängnis waren. Zudem gab es fast täglich Zellenkontrollen - die letzte gründliche am 6. September 1977.
Später sagten Ermittler aus, Baader habe die Waffe in seinem Plattenspieler versteckt und sie so bei der Verlegung in eine andere Zelle transportieren können. Man habe im Innern des Plattenspielers eine Halterung entdeckt, wo die Pistole hineinpasse. Nur hatte bereits am 5. September die Bundesanwaltschaft ausdrücklich angeordnet, sämtliche elektrischen Geräte zu untersuchen, vor allem deren Innereien. Dubios: Nach dem 18. Oktober fiel dem Chefermittler Textor plötzlich ein, ausgerechnet der Plattenspieler sei Anfang September versehentlich nicht überprüft worden.
Genauso merkwürdig der Zellenwechsel der Gefangenen. Sie mussten laufend umziehen. Baader wurde am 4. Oktober von Zelle 715 in die Zelle 719 verlegt. Raspe musste an diesem Tag - zufällig? - exakt die Zelle beziehen, wo sich in der Fußleiste der Fensterwand die Waffe befand, mit der er sich zwei Wochen später umbrachte. Und: Die "neuen" Zellen der Gefangenen wurden vor der Verlegung nicht durchsucht, weil sie längere Zeit nicht belegt gewesen seien. "Wir hatten dafür keinen Auftrag", heißt es in einem LKA-Protokoll.
Neue Kleidung und ein frischer Pass
Volker Speitel wurde im Dezember 1978 zu nur drei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Nach 23 Monaten Haft übernahm ihn am 1. September 1979 die Zeugenschutz-Abteilung 23 des BKA. Um 0.06 Uhr wartete der frühere Bundesnachrichtendienst-Mann und BKA-Kriminalhauptkommissar Walter Schill in einem blauen BMW auf den Ex-Terroristen. Ein halbes Dutzend Beamte eines Mobilen Einsatzkommandos sicherte die Aktion. Schill übergab Speitel eine Sporttasche mit neuer Kleidung und einen frischen Pass. Sein neuer Name: Thomas Keller.
Die vom deutschen Steuerzahler finanzierte Reise ging über Frankreich und Tunis nach Brasilien, wo Speitel/Keller eine Werbefirma gründete, die schon bald Broschüren für VW do Brasil produzierte. Immer mit von der Partie: der Kriminalbeamte Walter Schill. Mitarbeiter glaubten damals, er sei der Onkel ihres Chefs.
Bald zog es den Kronzeugen, der gern schicke Cordanzüge trug und schon in der RAF-Szene eher als Windbeutel galt, zurück nach Deutschland. Nach zehnmonatiger Tätigkeit in der Presseabteilung einer Autozubehörfirma im Raum Stuttgart stieg Speitel alias Keller im Juli 1985 zum Presse- und Werbechef des Wohnmobil-Herstellers Westfalia in Rheda-Wiedenbrück bei Gütersloh auf, der eng mit der Volkswagen AG kooperierte.
Auffällig unauffällig
Der damalige Mitinhaber des Unternehmens, Horst Knöbel, erinnert sich: "Keller begleitete mich oft auf Reisen, organisierte Pressekonferenzen und Messeauftritte, erarbeitete Werbekonzepte. Ein klar denkender Kopf, der engagiert seine Standpunkte vertrat." Erst später habe er bemerkt, wie auffällig unauffällig der Pressechef bei öffentlichen Auftritten agierte: "Wenn Fotografen auftauchten, hat er mich immer in den Vordergrund geschoben. Weil er angeblich dringend auf die Toilette musste."
"Ich mochte ihn", sagt Horst Knöbel. Dagegen eine enge Mitarbeiterin Kellers: "Er galt als unberechenbar, geltungssüchtig und habgierig, hatte keine Ahnung von Pressearbeit." Als sie 1987 zufällig in einem Supermarkt in einem Magazin blätterte und auf ein Foto von Volker Speitel stieß, war sie bass erstaunt. "Ich habe sofort die Geschäftsleitung informiert, dass wir einen Ex-Terroristen als Pressechef haben." Kurz darauf bekam Knöbel Besuch vom BKA: "Die Herren bestätigten seine wahre Identität, wickelten alles ab und lösten seine Wohnung in Gütersloh auf." Im Stammheim-Prozess hielt der Anwalt Otto Schily der Bundesanwaltschaft wiederholt vor, die "Kronzeugen" bekämen für ihre Aussagen Vergünstigungen - was regelmäßig dementiert wurde. Heute räumt Ex-Generalbundesanwalt Rebmann erstmals ein: "Ja, die Kronzeugen von damals bekamen Vergünstigungen, sie erhielten eine neue Identität, auch Geld und wurden dann ins Ausland gebracht."
Rebmann begründet die Maßnahmen damit, dass Zeugen wie Speitel gefährdet gewesen seien. Gleichzeitig räumt er ein: "Wir hatten keine Erkenntnisse, dass seitens der RAF gegen Ex-Mitglieder oder Verräter mit Mord gedroht oder etwas gegen sie unternommen wurde."
Wem kann er heute noch gefährlich werden?
Die RAF erklärte sich im April 1998 in einem Kommunique für aufgelöst und den bewaffneten Kampf für beendet. Volker Speitel ist bis heute untergetaucht. Vermutlich nicht mehr unter dem Tarnnamen Thomas Keller. Wem kann er heute noch gefährlich werden?