"Wenn von einem Tag auf den anderen diese Importe ausblieben, würde das dazu führen, dass ganze Industriezweige ihre Tätigkeit einstellen müssten", hatte Bundeskanzler Scholz noch am letzten Sonntag gewarnt. Eine Woche später machen schier unaushaltbare Bilder aus Butscha, 30 Kilometer von Kiew entfernt, die Runde und versehen die Diskussion um einen sofortigen Lieferstopp für Gas, Öl und Kohle aus Russland mit einer neuen Dimension an Dringlichkeit. Die Hauptfrage bleibt dabei dieselbe: Wie würde sich ein schnelles und vollständiges Energie-Embargo auf Putins Krieg auswirken?
Das diskutierten am Abend bei "Anne Will" folgende Gäste:
- Lars Klingbeil (SPD, Parteivorsitzender)
- Markus Söder (CSU, Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Bayern)
- Veronika Grimm (Wirtschaftswissenschaftlerin, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung)
- Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen, Zentrum Liberale Moderne, Parlamentarische Staatssekretärin a.D.)
- Robin Alexander (stellvertretender Chefredakteur der "Welt")
Mehrere Tage hatte Marieluise Beck in Kiew verbracht, war mit der Bahn dort hingereist, um sich einen Eindruck von der Lage vor Ort zu verschaffen. Ihr Entsetzen, der Nachhall ihrer Eindrücke war extrem, das war von Beginn der Sendung an zu spüren. In den Abendstunden eines Tages, der diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine grausamste Bilder einer noch extremeren Dimension als ohnehin schon hinzufügte, schieden sich bei "Anne Will" die Geister an der Frage nach den richtigen Maßnahmen, um Putin zu stoppen.
"Anne Will": Beck fordert Ausbau der Waffenlieferungen an die Ukraine
Geht es nach Marieluise Beck, dann gibt es nur einen Weg, dem russischen Machthaber noch Einhalt zu gebieten: Man müsse aufhören, "seine Kriegskasse zu füllen", dazu die Waffenlieferungen an die Ukraine deutlich ausbauen, nur solche Zeichen würden Putin überhaupt noch zumindest bremsen können. Es reiche nicht, hinterher auf Orte wie Butscha zu schauen, man müsse im Vorwege solche Verbrechen verhindern.
Er würde die "Emotionalität verstehen", hob Lars Klingbeil da an, wie ohnehin mehrfach auf den Gefühlszustand von Marieluise Beck verwiesen wurde, als wollte man sagen, sie müsse sich nur ein wenig abkühlen, dann würde auch sie Dinge nüchterner beurteilen und zu einem Schluss kommen wie der Parteivorsitzende der SPD: "Alle tun täglich alles, damit dieser Krieg gestoppt wird, aber beenden könne ihn nur Putin selbst." Von Waffen war zwar auch bei Klingbeil die Rede, von Sanktionen. "Zu wenig, zu spät", entfuhr es jedoch Marieluise Beck, die aus dem verzweifelten Kopfschütteln gar nicht mehr herauskam.
Söder tritt auf die Bremse
Ein Aggregatszustand, den man auch bei den europäischen Nachbarn verzeichnet, wie Robin Alexander von der "Welt" zu berichten wusste: "Der halbe Kontinent fragt sich: Was ist mit den Deutschen los?“. Blickte man gen München oder besser gesagt: gen TV-Monitor, wo Markus Söder vor einem bajuwarischen Abendrot-Panorama Platz genommen hatte, das selbst Modemacher mit Doppel-ö zu kitschig gefunden hätten, konnte man kaum Antworten erwarten. Wobei es rhetorisch erst einmal überaus pfundig zuging. "Russland hat sich aus dem Kreis der zivilisierten Nationen verabschiedet", hieß es da vollmundig. Söders Fuß rutschte jedoch nur kurz aufs rhetorische Gaspedal, im Anschluss verfiel der bayrische Ministerpräsident fast in abgedämpften Wahlkampf-Duktus – überlegen hier, respektieren dort – sprach von Energieentlastungspaketen, die bis 2024 greifen würden. Angesichts der stündlich schlimmer werdenden Nachrichten und Aufnahmen aus Butscha ein Zeitrahmen, bei dem man Putins Lachen bis an die Isar meinte hören zu können.
Das Grauen von Butscha: die brutale Realität des Krieges

Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm gab den Forderungen Becks ("ein kurzer, harter Schnitt") einen realistischen Rahmen, sprach davon, dass ein Embargo durchaus möglich und zu verkraften sei, auch wenn es Unterschiede zwischen Gas und Öl etwa gebe. Beinah ebenso wichtig wie das Ansinnen, Putin Einhalt zu gebieten, war für Grimm auch die Signalwirkung, nicht nur mit Blick auf Russland, sondern auch auf China im Sinne von: Mal schauen, was man mit Europa, was man mit den Deutschen so alles machen kann, bevor sie schwerere Geschütze auffahren.
Zwischen nüchtern-sachlich und fordernd bis flehend verliefen an diesem Abend bei Anne Will also die Grenzlinien, hier die kühlen Klingbeil und Söder, dort Beck und Alexander, die angesichts der fast schon aufreizenden Sachlichkeit beinah verzweifelten. So wurde sie am Ende der Sendung, so kennt man das und so erwartbar ist das natürlich, nicht geklärt, die Frage, ob und wie und wann ein umfassendes Embargo gegen Russland einerseits durchführbar, andererseits effektiv wäre. Die Dynamik, mit der das Grauen des Krieges in die Timelines und Nachrichtenkanäle schwappt, wird Entscheidungsfindungen in den nächsten Tagen beschleunigen beziehunngsweise beschleunigen müssen. Wie sagte es Veronika Grimm mit dem Verweis auf eine Zeitenwende und deren Adaption: "Es kann noch dicker kommen."