Es war wie bei Sisyphos: Immer wieder rannten die Deutschen gegen die französischen Reihen an, doch die Bälle kamen (fast) alle wieder zurück. Es fehlte die Durchschlagekraft. Das muss sich gegen Portugal ändern. Aber wie?
Wenn die griechischen Götter tatsächlich leben sollten und sie am Dienstagabend zufällig vom Himmel herabschauten, nach München vielleicht, so werden sie eine Menge Freude gehabt haben. Denn in der örtlichen Arena wurde eines ihrer großen Mythen als Theaterstück aufgeführt, mit 22 Männern in kurzen Hosen. "Die Leiden des Sisyphos" lautete der Titel des Abends, gespielt mit viel Leidenschaft – und doch waren die 14.000 Zuschauer nur zum Teil zufrieden.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte die Rolle des Sisyphos übernommen, Gegner Frankreich spielte den Berg. Unermüdlich versuchten die Deutschen, den Ball ins gegnerische Tor zu rollen – doch er kam immer wieder zurück. So wie der Felsblock, den der alte Sisyphos bis kurz unter den Berggipfel schleppte und ihn dann wieder zu Tal rollen sah.
"Der Einsatz hat gestimmt"
Eine Stunde vor Mitternacht schlichen die deutschen Spieler mit gesenkten Köpfen aus der Arena. Sie hatten mit viel Leidenschaft gekämpft, waren weite Wege gegangen, und doch verloren sie ihr EM-Auftaktspiel gegen Weltmeister Frankreich mit 0:1. Und das auch noch durch ein Eigentor, unfreiwillig erzielt von Mats Hummels in der 20. Minute. Mehr Drama, mehr Tragik ging kaum.
Bundestrainer Joachim Löw schmerzte das Ergebnis, nicht aber die Leistung seiner Mannschaft. "Es war ein brutal intensives Spiel", sagte er, "wir haben alles in die Waagschale geworfen. Der Einsatz hat gestimmt." Zur Wahrheit gehört aber auch: Unermüdliches Anrennen genügt gegen ein grandioses Team wie Frankreich nicht; spielerische Lösungen, wie die beiden Abwehrketten zu durchbrechen sind, wurden nur selten gefunden.
Joshua Kimmich wurde im Zentrum vermisst
Das war zum Teil auch einem taktischen Manöver geschuldet, das Löw zu verantworten hatte: Er beorderte Joshua Kimmich aus dem Abwehrzentrum auf die rechte Außenbahn. Hier sollte er die schnellen französischen Flügelstürmer ausbremsen. Dies gelang über weite Strecken der Partie, doch im Zentrum wurde Kimmich vermisst. Kroos und Gündogan wirkten mit dem Spielaufbau überfordert. Sie mühten sich, aber viele ihrer Pässe ließen die notwendige Präzision vermissen. Zu selten fand der Ball seinen Adressaten im gegnerischen Strafraum. Und die Franzosen um ihren Abwehrchef N'golo Kanté schienen aus ihrer Spielhälfte eine schiefe Ebene gemacht zu haben, sodass nahezu jeder Ball zu den Deutschen zurückrollte. Nur eine einzige echte Chance hatte das Team von Trainer Löw: Eine Vorlage von Robin Gosens nahm Serge Gnabry volley an und schoss nur knapp über das französische Tor (54. Minute).
Es war ein dürrer Abend für Taktikfreunde und Fußball-Feinschmecker. Kein mitreißendes, rauschhaftes Spiel. Das lag auch daran, dass sich Frankreich mit einer passiven Rolle begnügte. Oftmals stand die komplette Mannschaft in der eigenen Hälfte, fegte fleißig die Bälle aus dem Strafraum, tat aber kaum etwas fürs Spiel. Ballbesitz-Fußball (wie er zum Beispiel von Spanien zelebriert wird) ist den Franzosen fremd. Sie wollen den Ball eigentlich gar nicht in ihren Reihen haben – sie wollen ihn bloß dem Gegner abjagen, blitzschnell auf Angriff umschalten und vor dem Tor dann kurzen Prozess machen.
Hoffen auf Goretzka
Das klappte am Dienstagabend selten – ein Verdienst der straff organisierten Defensive um Hummels und Antonio Rüdiger. Kylian Mbappé, der weltbeste Flügelstürmer, ließ nur wenige Male sein Talent aufblitzen. Er schoss in der 66. Minute ein wunderschönes Tor, nachdem er drei deutsche Abwehrspieler ausgetanzt hatte (namentlich: Ginter, Kimmich und Gündogan), doch der Treffer wurde wegen einer Abseitsstellung nicht gewertet.
Man darf gespannt sein, welche Schlüsse Joachim Löw aus dem Frankreich-Spiel zieht. Schon am Samstag steht das zweite Vorrundenspiel an, Gegner ist dann Europameister Portugal. Wird Löw seine Aufstellung nachjustieren? Kimmich zurück ins Zentrum, dazu vielleicht sogar noch ein Spieler mehr in der Offensive? Möglicherweise steht dann auch Leon Goretzka wieder zur Verfügung, der zuletzt wegen einer Oberschenkelverletzung hatte pausieren müssen. "Eine gute Option" werde der Bayern-Spieler sein, ließ Löw bereits wissen, "im Laufe des Spiels".
Die Aufgabenstellung im Portugal-Spiel (Samstag, 19. Juni, 18 Uhr/live in der ARD, auf MagentaTV und im stern-Ticker) wird eine ähnliche wie gegen Frankreich sein: Deutschland wird wieder das Spiel machen müssen, denn Deutschland braucht unbedingt Punkte, um die Chance auf den Einzug ins Achtelfinale zu wahren.