Für Angelique Kerber war es ein großes Jahr. 2018 gewann die Kielerin als erste deutsche Tennisspielerin seit Steffi Graf (1996) das Turnier in Wimbledon. Dafür wurde sie völlig zu Recht zu Deutschlands Sportlerin des Jahres gewählt. Doch bei der Gala in Baden-Baden, wo die Auszeichnung verliehen wurde, war der eigentliche Star des Abends jemand anders.
Kristina Vogel bekam deutlich mehr Applaus als Kerber. Mit nur 28 Punkten weniger als die aktuelle Tennis-Weltranglistenzweite landete Vogel bei der Abstimmung zwar lediglich auf Platz zwei – trotzdem waren an diesem Abend alle Augen auf sie gerichtet. Inmitten der Sportstars machte eine Frau im Rollstuhl den größten Eindruck.
Für Kristina Vogel war es – nach herkömmlichen Maßstäben – kein gutes Jahr, wahrscheinlich sogar das schlimmste ihres Lebens. Erst recht in einer Leistungsgesellschaft wie dem Sport, die nur zwischen Sieg und Niederlage unterscheidet. Die ehemalige Bahnradfahrerin war im Juni während einer Trainingseinheit in Cottbus mit einem anderen Fahrer zusammengestoßen, lag zwischenzeitlich im künstlichen Koma und sitzt seitdem im Rollstuhl. Bis zu ihrem Unfall war Kristina Vogel, elfmalige Weltmeisterin, die bisher erfolgreichste Bahnsportlerin der Welt gewesen. Das ist sie immer noch. Nur zählt das alles nicht mehr.
Elf Mal Weltmeisterin – jetzt querschnittsgelähmt im Rollstuhl
Die 28-Jährige hat in diesem Jahr das Leben neu lernen müssen. Die querschnittsgelähmte Ausnahmesportlerin wird nie wieder selbstständig laufen können, sie musste sich an den Rollstuhl gewöhnen und viele scheinbar selbstverständliche Dinge des Alltags neu lernen. Erst für die Weihnachtstage darf sie die Klinik in Berlin verlassen. Wie sie diese Aufgabe gemeistert hat, ist schlicht und einfach beeindruckend – und genau dafür wurde sie bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres auf Platz zwei gewählt.
Kristina Vogel etwas viel Wichtigeres als eine Medaille oder einen Olympiasieg geschafft. Sie hat einen Schicksalsschlag, dessen Ausmaß sich die meisten Menschen nur schwer vorstellen können, mit einer scheinbaren Leichtigkeit besiegt, die für viele andere eine Inspiration ist. Knapp drei Monate nach ihrem Unfall gab Vogel eine erste Pressekonferenz. Es gab ein paar Tränen, aber kaum ein Wort, aus dem Verbitterung oder Trauer zu hören gewesen wären. "Ich hatte verdammtes Glück, ich muss einen großen Schutzengel gehabt haben", sagte Vogel damals. Sie hätte schließlich auch vom Hals abwärts gelähmt sein können. In dieser Situation noch von Glück zu sprechen, das muss man erst einmal schaffen.
Optimismus, Lebensfreude und positives Denken
"Was soll ich mich bedauern? Es ist, wie es ist. Ich muss gefordert werden – und wenn man im Leben gefordert wird, kommt man weiter." Ein weiterer Satz aus jener Pressekonferenz in Berlin. Vogel hat in ihren öffentlichen Auftritten nach dem Unfall nie groß ihrer erfolgreichen Sportlerlaufbahn hinterhergetrauert, noch nicht einmal ihrer Bewegungsfreiheit, die auch die meisten Nicht-Sportler so selbstverständlich nehmen. Stattdessen erscheint sie stets als die Personifikation von Optimismus, Lebensfreude und positivem Denken. Das habe sie nun einmal so gelernt in ihrer Sportkarriere: Niederlagen nicht lange hinterhertrauern, sondern weiterkämpfen und aus jeder Situation das Beste machen.
Auch ihr Auftritt im "Aktuellen Sportstudio" des ZDF am Samstag bewegte viele Menschen. Wieder präsentierte sich Vogel so aufgeräumt und fröhlich, dass es vielen Zuschauern großen Respekt abnötigte. "Das Leben geht ja weiter und es ist trotzdem schön", erklärte sie im Interview mit Moderatorin Dunja Hayali und bekannte auch ehrlich, dass sie bereits an eine Amputation ihrer Beine gedacht habe. Mit welcher Selbstverständlichkeit Vogel auch solche Dinge vor einem Millionenpublikum ausspricht, ist ebenfalls bemerkenswert. "Sie ist eine, die Kraft gibt und von der (nicht nur) ich mir ne Scheibe Optimimus abschneiden kann und hoffentlich auch werde", twitterte Moderatorin Hayali nach dem Interview.
Kristina Vogel: Mehr als eine Sportlerin – ein Vorbild
Exakt das ist es, was Kristina Vogel in diesem Jahr zu einer der größten Sportlerinnen Deutschlands gemacht hat. Von Sportlern wird oft verlangt, dass sie als Vorbilder dienen sollen, und beinahe genauso oft scheitern sie daran. Kristina Vogel hat sich ihr Jahr 2018 mit Sicherheit anders vorgestellt, mit ihrer Einstellung zum Leben aber hat sie diese Vorbildfunktion so erfüllt wie vielleicht kaum ein anderer Sportler vorher. Nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern für Menschen jeden Alters und in jeder Situation. Wer dieser Frau im Rollstuhl zuhört, der schämt sich seines eigenen Gejammers über Probleme, die neben ihrem Schicksal verschwindend klein erscheinen – auch wenn Kristina Vogel das wohl nie so sagen würde.
Sportler wie Angelique Kerber, das deutsche Eishockey-Team oder Triathlon-Weltmeister Patrick Lange, die am Sonntag ausgezeichnet wurden, haben großartige Leistungen gebracht und für emotionale Momente gesorgt. Kristina Vogel hat mehr geschafft: Sie hat die Menschen bewegt und ihnen etwas gegeben, das länger Gültigkeit hat als ein Match oder ein Rennen lang. Deshalb wandte sich auch Kerber, die Vogel bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres so knapp geschlagen hatte, auf der Bühne noch einmal persönlich an die Zweitplatzierte: "Du bist ein Vorbild für so viele Menschen, du hast so viel Willensstärke gezeigt, so viel Mut und Kraft und bist immer positiv geblieben. Ich ziehe alle meine Hüte." Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.