Hallo, lieber Leser. Unserem geliebten Facebook geht es nicht gut. Das müssen wir ändern. Poste all Deine sexuellen Vorlieben, Deine schlimmsten Kindheitserinnerungen, Deine bewegendsten Nacktbilder, Deine geheimsten Putschpläne. Jetzt die Facebook-Aktie in die Gewinnzone posten! Tagesziel: 5 Prozent.
Tut auch gar nicht weh. Ist auch gar nicht so schlimm. Ist das T-Shirt erst gefallen, fällt der Striptease erstaunlich leicht. Ich seh's ja an mir selbst. Für einen Like einer meiner 3500 Freunde bin ich inzwischen bereit, praktisch alles zu tun. Neulich hätte ich sogar fast ein Foto von meiner Tochter gepostet. Sie sah so lustig aus in ihrem vereisten Wintermantel mit einem Haufen Schnee auf dem Kopf. Immerhin sah man sie nur von hinten. Trotzdem: das Foto des eigenen Kindes auf Facebook! Wie krank muss man sein?
Wege in die Sucht
Ich bin da so reingerutscht. Wie man halt reinrutscht in eine Sucht. Alkohol, Kokain oder die Sucht nach dem bunten Kolibri unserer Träume, dem man im frischen Tau der frühen Morgenstunden hinterherjagt, weil man sehen will, wie der kleine, irrlichternde Federball im transparenten Glast der aufgehenden Sonne schimmert.
Entschuldigung, ich schweife ab. Kann mich grad nicht konzentrieren. Musste eben schnell einen russischen Porno-Bot in meine Freundesliste aufnehmen. Ich liebe diese schüchtern lächelnden Beauty-Queens aus Wolgograd, Kasachstan oder Omsk. Beruhigend flackernde Lichter in meinem düsteren Alltag.
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10 Jahre Datenspenden
Jetzt, wo die Datenanalysten von Cambridge Analytica unser geliebtes Facebook an den Abgrund bringen, wollte ich mir meine digitale Vergangenheit einmal näher anschauen. Meine Suchtgeschichte hat nämlich gerade 10-jähriges Jubiläum. Guter Anlass, in alten Erinnerungen zu schwelgen und nachzuschauen, was genau von mir eigentlich auf den Servern des Sozialen Netzwerkes alles gespeichert ist. Also habe ich mir alle Daten heruntergeladen, die Facebook von mir besitzt.
Das ist nicht besonders kompliziert. Oben rechts auf Einstellungen klicken. Dann unter "Allgemeine Kontoeinstellungen" den untersten Eintrag wählen: "Lade eine Kopie deiner Facebook-Daten herunter." Dann muss man nur noch den Anweisungen folgen. Und das haben wir ja schließlich alle gelernt: Den Anweisungen von Facebook zu folgen. Facebook braucht etwa eine halbe Stunde, um mein Archiv aufzubauen. Dann bekomme ich einen Link zugeschickt, unter dem ich all meine Daten herunterladen kann. In meinem Fall sind das 3000 Dateien in 17 Ordnern. 400 Megabyte.
Zum Vergleich: Ich habe einen 1000-seitigen Roman geschrieben. Die Manuskriptdatei umfasst 3 Megabyte. Zugegeben, der Vergleich hinkt etwas: Meine Facebook-Daten beinhalten auch 500 Fotos. Alles, was ich jemals hochgeladen habe, wird mir fein säuberlich präsentiert. Sieht aus wie eine eigene Homepage, die ich nun im Web-Browser öffnen kann.
Ich, das Datenpaket
Facebook teilt seine Nutzer in zwei werberelevante Zielgruppen ein: "Starting Adult Life" und "Established Adult Life". Die gute Nachricht zuerst: Ich (www.facebook.com/stephanmaus, geb. 1968, männlich, Lieblingsrestaurant laut Facebook: "Goldener Pudel"), führe inzwischen ein etabliertes Erwachsenen-Leben. Danke, Facebook. Zum ersten Mal in meinem Leben sagt mir jemand, dass ich erwachsen bin. Dafür lasse ich mir gern 400 MB Daten absaugen. Laut der Facebook-Analyse meiner Interessengebiete springe ich besonders auf folgende Werbethemen an: Socialist Unity Party of Germany, Punk Subculture und Chinese Martial Arts. Ich freue mich schon sehr auf den Werbebanner für den nächsten Kung-Fu-Film mit Sarah Wagenknecht und Campino.
Unter der Kategorie "Werbeverlauf" ist vermerkt, wann ich auf welche Anzeige geklickt habe. Am 2. März 2018 muss mein Leben auf dem endgültigen Tiefpunkt angekommen sein. Da habe ich nämlich schon um 09:06 Uhr in der Früh auf einen Werbebanner für das Handyspiel "Snake VS Block" geklickt. Es tut mir so leid, Mama. Ich bin nichts als ein armes Opfer der weltweit operierenden Silicon-Valley-Mafia.
Durch den Facebook-Verlauf selbst gefunden
Aber mal ehrlich: Im Grunde weiß ich gar nicht, warum sich jetzt alle plötzlich über Facebook beschweren. Gut, sie geben ungefragt meine Handynummer und meine Adressen an Unternehmen weiter. Aber immerhin sagen sie dir, an wen. Zumindest, wenn man sich mal nach 10 Jahren seine Daten schicken lässt. So erfahre ich jetzt, dass unter anderem Airbnb, Spotify, Handelsblatt und Tchibo meine Daten besitzen.
Beim Anblick meiner gesammelten Digitalexistenz wird mir ganz warm ums Herz. Mit Wohlgefallen sehe ich, dass mich am 21. November 2015 die Ex-Freundin von Benjamin von Stuckrad-Barre abonniert hat. Das schmeichelt augenblicklich meinem alten, müden Panikherz. Was war wohl für ein Wetter an jenem Tag, als mein Schicksal das von Benjamin kreuzte? Vielleicht sollte ich mit ihm zusammen in den nächsten Kung-Fu-Film mit Sarah und Campino gehen.
Datenschutz? Das war mal
Ein bisschen Wehmut kommt auf, als ich sehe, dass ich 35 Freunde gelöscht habe. Selbstzweifel nagen an mir: Bin ich zu grausam zu meinen Mitmenschen? Wie groß mag das Leid sein, das ich ihnen zugefügt habe? Mit welchem Recht halte ich Ihnen all meine wunderbaren Statusmeldungen vor? Aber manchmal geht es einfach nicht anders. Ich weiß noch sehr genau, warum ich zum Beispiel den Schriftsteller Thor Kunkel gelöscht habe. Er driftete schon früh Richtung AfD ab. Nämlich 2015. Warum ich allerdings Heinz Strunk aus meinem Freundeskreis verbannt habe, will mir nicht mehr einfallen.
Mein allererstes Löschopfer war ein freundlicher Kollege war. Ich habe ihn am 17. März 2009 entfreundet, weil er in einer Konferenz einem anderen Kollegen sein Handy herübergereicht hatte, um ihm einen meiner Statusbeiträge zu zeigen. Das empfand ich damals als einen erschreckenden Eingriff in meine Privatsphäre, da der andere Kollege nicht mein Facebook-Freund war und somit meine Beiträge nicht lesen konnte. Ich war immer ein großer Datenschützer. Habe sogar mal gegen die Volkszählung demonstriert. Das hat Facebook alles klein gekriegt. Heute setze ich alle Statusmeldungen auf öffentlich. Jeder Like überschüttet mein Hirn mit köstlichem Endorphin.
Doppelte Dosis in zehn Jahren
Anfangs kannte ich noch jeden Facebook-Freund persönlich. Mein erster Facebook-Freund war meine Frau. Immerhin. Inzwischen akzeptiere ich einfach jeden. Hauptsache, der soziale Graph blüht und gedeiht. Ranking ist alles heutzutage. Der digitale Fortschritt darf nicht gebremst werden.In meinem ersten Facebook-Monat habe ich 21 Beiträge gepostet. Im vergangenen Monat waren es 42. Doppelte Dosis in zehn Jahren. Das Suchtpotential von Heroin ist ganz klar größer. 21 meiner Freundschaftsanfragen sind unbeantwortet geblieben. Verschmäht wurde ich zum Beispiel von Kevin Kühnert. Eingebildeter Sozi!
Insgesamt muss man sagen, dass manchmal sogar so etwas wie Hoffnung und Erkenntnisgewinn durch meine Suchtgeschichte schimmert. Der 19. März 2009 ist so ein lichter Moment. Damals postete Rainer Langhans etwas auf meine Pinnwand. Seitdem ist es Fremden verboten, dort zu posten. Soll niemand sagen, ein Süchtiger sei nicht lernfähig.
Positiv auch: Generell bin ich kein großer Anstupser. In 10 Jahren habe ich nur einmal jemanden angestupst. Und zwar meine Kollegin Andrea Ritter. Am Freitag, den 27. Januar 2017, um 14:19 UTC + 0. Und das auch nur, weil sie mich zuvor angestupst hat. Ich bin vielleicht kein großer Stupser. Aber ich versuche, ein guter Kollege zu sein.
Mein ganz persönliches Daten-Mausoleum
Insgesamt sitze ich vor einem herrlichen Datenmausoleum. 400 MB, allein mir zu Ehren. Ich werde die Sammlung meiner Tochter vermachen. Die meisten Daten habe ich in vollem Bewusstsein abgegeben und würde sie wohl heute wieder posten. Wenn allerdings einmal irgendein Diktator von Facebook die Herausgabe der Kontaktinformationen aller linksversifften Adepten chinesischer Kampfkunst im Raum Hamburg verlangt, bin ich am Arsch. Aber noch ist die AfD ja erst bei 14 Prozent und Matthias Matussek noch nicht Innenminister.
Mist, jetzt wird mir grad richtig mulmig. Schnell ein lustiges GIF auf Facebook teilen. Das beruhigt. Aber so richtig will das heute nicht funktionieren. Denn plötzlich entdecke ich eine Datei mit all meinen Facebook-Chats. 1000 Unterhaltungen mit Hunderten von Teilnehmern. Inklusive aller im Chat geteilten Fotos. Wenn davon irgendetwas leakt, bin ich Job und Familie los. Dann bleiben mir nur noch die russischen Bots. Egal, Facebook wird für mich sorgen.
Mi Data e su Data
Wo ich gerade all meine Daten fein säuberlich in 17 Ordner sortiert sehe, würde ich natürlich auch zu gern wissen, wie Facebook sie analysieren kann. Und was Firmen wie Cambridge Analytica mit ihnen machen können. Die amerikanischen Datensammler hatten 2015 mit einer App für Persönlichkeitsprognose - Name: "thisisyourdigitallife" - per Facebook-Login Benutzerdaten gesammelt und ausgewertet. Beim Herunterladen der App gaben die Nutzer dem Unternehmen die Zustimmung, auf ihre Informationen zuzugreifen. Doch heimlich sammelte die App auch noch die Daten aller Facebook-Freunde der gutgläubigen Nutzer. So entstand ein Datenpool von 50 Millionen Facebook-Profilen.
Heute steht Cambridge Analytica im Verdacht, diese illegal gesammelten Daten für den Trump-Wahlkampf benutzt zu haben. Die App "thisisyourdigitallife" basiert auf den Erkenntnissen des Psychologieprofessors Michal Kosinski. Der Forscher lehrt Psychometrie an der amerikanischen Elite-Universität Cambridge und entwickelt Programme, mit denen er anhand von Facebook-Daten Persönlichkeitsprofile erstellen kann.
Das Ich in Likes
Professor Kosinski behauptet, die Datenmenge von zehn Facebook-Likes genüge, um mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz in Sekundenbruchteilen den Charakter eines Menschen besser einzuschätzen, als dies ein Arbeitskollege könne. 100 Likes reichten, um zutreffendere Antworten zu finden als ein Freund. Und 300 Likes benötigten Systeme, um einen Menschen besser einzuschätzen, als dies ein Ehepartner könne. Nun sind Kosinksis Forschungen keine Spinnerei. Die meisten politischen Parteien nutzen solche Methoden heute zur Wählerwerbung. Sogar die Grünen, 1987 noch sehr aktiv im Protest gegen die Volkszählung.
Daten-Sauce
Professor Kosinksi bietet seinen Facebook-Persönlichkeitstest auf der Website seines Psychometrie-Instituts an der Universität Cambridge an. Das Web-Tool heißt "Apply Magic Sauce" und verspricht, anhand des digitalen Fußabdrucks eines Nutzers seine Persönlichkeitszüge vorhersagen zu können. "Apply Magic Sauce" ist die akademische Matrix, aus der die illegale Datenschürf-App "thisisyourdigitallife" von Cambridge Analytica hervorgegangen ist. Das Modell für Donald Trumps Wahlkampfhelfer.
Vorfreudig logge ich mich mit meinen Facebook-Daten in Professor Kosinksis "Apply Magic Sauce" ein. Die Algorithmen fressen sich durch 10 Jahre Narzissmus, Hysterie und Profilneurose. Hinter dem Wartebildschirm braut sich Selbsterkenntnis zusammen. Mein Herz schlägt schneller. So muss sich Tamino gefühlt haben, als er mit seiner Zauberflöte Sarastros Reich betreten hat. Ich sag's ja: Ist das erste T-Sirt erst gefallen, macht Striptease richtig Spaß.
Selbstfindung im Facebook-Heuhaufen
Und dann geht der Vorhang auf, und die tiefsten Geheimnisse meiner Psyche stehen vor mir. Die magische Soße kommt zu dem Ergebnis, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mann bin. Ein Mann allerdings - Ja? Bitte? Ich höre? - der seine feminine Seite nicht unterdrückt.
Aha. Beruhigt scrolle ich etwas herab. Dort steht in strahlender Schönheit das psychische Koordinatensystem, in dem ich verdammt bin, zu existieren. Meine "Big Five"-Persönlichkeitsmerkmale, wie es in Professor Kosinksis Psychometrie heißt.Verglichen mit einem statistischen Mittelwert bin ich 13% mehr "Liberal und Künstlerisch" als "Konservativ und Traditionell"; 2% mehr "Impulsiv und Spontan" als "Organisiert und Hart arbeitend"; 20% mehr "Kontemplativ" als "Eingebunden in die Außenwelt"; 10% mehr "Wettbewerbsorientiert" als "Teamfähig"; 23% mehr "Zurückgelehnt und Entspannt" als "Leicht Gestresst und Emotional". Kurz: Vollkommen logisch, dass mich die Ex von Stuckrad-Barre auf Facebook abonniert hat.
Noch etwas tiefer steht die ausführliche Persönlichkeitsanalyse nach dem Modell des Schweizer Psychiaters C. G. Jung. Die kommt zu dem Ergebnis, ich sei ein INTJ (Introverted Intuitive Thinking Judging). Ich bin ausgesprochen analytisch. Arbeite lieber allein als im Team. Habe Schwierigkeiten, Autoritäten anzuerkennen, die sich auf Hierarchie, Titel oder Tradition gründen. Kurz: Ich bin ein unabhängiger Denker und furchtbar kreativ. Meine größte Stärke liegt im Ausformulieren hoch komplexer Theorien.
Danke, Facebook.
Danke Professor Kosinski.
Danke Cambridge Analytica.
Noch nie habe ich mich so verstanden gefühlt.Und nun genug in alten Daten herumgestochert! Lasst uns tapfer neue generieren! Das Netzwerk ruft. So oft schon hat uns Facebook geholfen. Als wir wissen wollten, wo die Ex sich so herumtreibt; als wir uns daran laben wollten, wie sich der Kollege wieder blamiert; - stets war uns Facebook dann treu zu Diensten. Heute braucht die geliebte Plattform unsere Hilfe. Frisch ans Werk! Heute retten wir Facebook. Morgen Google. Und übermorgen bauen wir die STASI wieder auf. Mit Mark Zuckerberg als Gründungsdirektor.