14 von 22 Fifa-Funktionären votierten 2010 für den Zwergstaat. Zu Recht? Katar sei endlich auch mal ein arabischer und einer der viel zu seltenen asiatischen Austragungsorte, heißt es. Zudem sei die WM ein Booster für die Menschenrechte in der Region.
Die einzelnen Argumente im Faktencheck:
Fußball-WM 2022: Endlich auch mal ein arabisches Land?
In vielen Ländern der arabischen Welt herrscht Fußballeuphorie. Schon Regionalspiele werden zu riesigen Festivals und füllen problemlos große Stadien und Kaffeehäuser. Jede Torchance, auf großen Bildschirmen übertragen, erfüllt die Straßen mit anschwellendem Geraune. In Ägypten ist das so, in Algerien und Marokko. Alles Länder, die schon früher an Weltmeisterschaften teilgenommen haben. Und in Katar?
Katar hat bisher kaum Fußballgeschichte geschrieben. Es hat sich nie für eine WM qualifiziert, es ist der erste Gastgeber seit dem Gründungsturnier 1930, der selbst vorher nie dabei war. Auch die Spiele der katarischen ersten Liga finden vor weitgehend leeren Rängen statt. Nicht nur pandemiebedingt, das war schon vorher so. Und auch der Fifa Arab Cup, der als Vorbereitung zur Weltmeisterschaft im Dezember ausgetragen wurde, fand wenig Anklang. "Am Tag der Turniereröffnung", schrieb die Deutsche Welle, "war von Fußballstimmung nichts zu spüren. Keine Fans mit katarischen Trikots, Fahnen oder Schals waren auszumachen." In den schönen neuen riesigen Stadien, die 40.000 bis 60.000 Menschen zu fassen vermögen, tummelten sich während der Vorrundenspiele nur wenige Tausend. Warum werden die Spiele von allen arabischen Staaten ausgerechnet in Katar ausgetragen?
Die Austragung der WM in Katar führt zu einer Verbesserung der Frauenrechte?
"Wandel durch Annäherung" ist eine begrüßenswerte Idee. Aber Frauenrechte sind in Katar per Gesetz beschnitten, und daran wird auch die WM nicht viel ändern. Frauen brauchen die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds, um zu heiraten, zu arbeiten, zu reisen. Gerichte können Frauen "Ungehorsamkeit in der Ehe" attestieren. Männer haben mehr Rechte, können etwa bis zu vier Frauen heiraten.
In einer umfassenden Studie von Human Rights Watch wird den meisten Familien, Gatten oder Vätern eine unterstützende Haltung ihren "Schutzbefohlenen" gegenüber attestiert. Dennoch beschweren sich viele Frauen, wie Kinder behandelt zu werden. Als Mädchen sei man "durchgehend in Quarantäne", sagt eine Frau. Die Covid-bedingte Isolation, die während der Hochphase der Pandemie viele traf, sei für katarische Mädchen schon lange Alltag. Im Gender-Equality-Index des World Economic Forum liegt Katar auf Rang 142 von 155 Staaten. Fußball-Aficionadas aus anderen Teilen der Welt wird das vermutlich nicht betreffen. Dennoch mag es befremdlich sein, wenn einem als Touristin im Land Sonderrechte eingeräumt werden.

Stimmt es eigentlich, dass ...
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Stimmt es, dass LGBTQ-Menschen in Katar Gefahr laufen, rechtlich verfolgt zu werden?
Auch wenn der Cheforganisator der Spiele, Nasser al-Khater, den offen schwulen Fußballer Josh Cavallo willkommen heißt – es ändert nichts daran, dass homosexuelle Handlungen nach Paragraf 285 des Strafgesetzes mit Gefängnis geahndet werden. Die wahhabitische Auslegung der Scharia im Land sieht sogar noch heftigere Strafen vor, allerdings findet die hier kaum Anwendung. Relevanter ist da die Gesellschaftsfähigkeit homophober Äußerungen.
Angesprochen auf eine Regenbogen-Kampagne der englischen Premier League ließ etwa der bekannte Sportkommentator Mohamed Aboutrika die Zuschauer einer katarischen Talksendung wissen, dass Homosexualität eine "gefährliche Ideologie" sei, die "immer schlimmer werde, weil sich die Menschen nicht mehr dafür schämen". Der Moderator ließ ihn gewähren, der Sender schritt nicht ein. So etwas könnte ein Grund dafür sein, dass Katar auf Rang 159 (von 198 Ländern) im "LGBT-Equality Index" steht und der schwule Reiseführer "Spartacus Gay-Travel" das Land auf den 190. Platz verbannt.
Die WM-Vorbereitungen bewirken bessere Arbeitsbedingungen im Land?
Richtig ist, dass 2018 mit der International Labour Organization (ILO) vereinbarte Rahmenregelungen dafür sorgen, dass sich die Zustände beim Bau von Stadien und anderen Gebäuden verbessert haben. Oder besser: hatten. Durch regelmäßige "Reality Checks" hat Amnesty International festgestellt, dass Reformen stagnieren und alte Missstände wieder auftauchen. Dazu gehören:
- Das Kafala-System: Um Arbeit zu finden, brauchten Arbeitsmigranten noch vor wenigen Jahren einen Bürgen (Kafil), der ihre Pässe einbehalten und ihnen die Ausreise oder den Arbeitsplatzwechsel verwehren darf, Menschenrechtsorganisationen sprachen von moderner Sklavenhaltung. 2020 versuchte die Regierung, das Problem mit einem Verbot aus der Welt zu schaffen. Was nicht gelingt: Das System ist kulturell zu tief verankert. Es läuft, wenn man so will, im Schlepptau des legendenhaft großzügigen golfarabischen Gastrechts, das dem Reisenden unbedingten Schutz garantiert. Es ist Teil einer großen Tradition. So wundert es nicht, dass manche Arbeitgeber die Praxis einfach beibehalten, zumal sie meist straffrei damit durchkommen.
- Das nach wie vor existierende Verbot von Gewerkschaften.
- Lohndiebstahl. Das Verbot gewerkschaftlicher Arbeit erleichtert es bestimmten Arbeitgebern, ihre ausländischen Arbeiter monatelang auf den Lohn warten zu lassen. Manche bekommen ihn erst bei der Ausreise. Oder gar nicht. Dagegen hat der Staat allerdings inzwischen einen Fonds aufgesetzt, aus dem ausstehende Löhne bezahlt werden sollen. Doch diese dort einzufordern, bleibt ein zäher bürokratischer und vielfach nicht zu bewältigender Prozess, wenn man der Sprache nicht mächtig ist und keinen Rechtsbeistand bezahlen kann.
- Todesfälle auf Baustellen. 15.021 Ausländer zählt die Qatar Public Statistics Authority, die zwischen 2010 und 2019 im Land gestorben sind – was in Anbetracht einiger Millionen Migrantinnen und Migranten eine überschaubare Summe sein mag. Die Behörde beweist damit eine vielleicht ungewohnte neue Transparenz, die allerdings an der Stelle endet, wo es um die Todesumstände geht: Es ist nicht nachvollziehbar, wo und woran genau sie gestorben sind. In früheren Statistiken ist von "natürlichem Tod" die Rede, später sterben viele an "Herzstillstand" oder "Herz-Kreislauf-Problemen". Aber woran genau? Und wo? Am Arbeitsplatz? Auf dem Bau? Und wenn ja, auf Baustellen der Fifa? Warum beschreibt eine katarische Statistik, dass 43 Prozent aller toten männlichen Nicht-Einheimischen zwischen 20 und 49 Jahren an "Herz-Kreislauf-Problemen" starben, aber nur 28 Prozent der Einheimischen desselben Alters? Wurden diese jungen Männer nicht einer akribischen Gesundheitskontrolle unterzogen, bevor sie die begehrten Jobs am Golf antreten durften?
Gelegentlich tauchen Untersuchungen und Berichte von katarischen Ärzten auf, etwa im "Qatar Medical Journal", die beschreiben, wie jungen Migranten durch die Arbeit in extremer Hitze starben. Aber ist das repräsentativ?Als "sehr selten" bezeichnet der Epidemiologe und Statistiker Peter Blair von der Uni Bristol diese Unkenntnis eines Staates über die Todesursachen seiner Einwohner. In Großbritannien sei lediglich in einem Prozent der Fälle unbekannt, woran jemand gestorben sei.
Aber in Großbritannien hat man auch ein Interesse an solchen Daten. In Katar könnten sie möglicherweise die Sicht auf die zugegebenermaßen sehr imposanten Stadien und Anlagen trüben. Und würden dann darüber hinaus Entschädigungszahlungen der Baufirmen an die Familien der toten Arbeiter in Nepal, Indien oder Bangladesch nach sich ziehen. Die können sie in der Regel nur geltend machen, wenn der Vater, Ehemann oder Sohn arbeitsbedingt verstarb.
Das kleine Land Katar ist ein Lichtblick der Pressefreiheit in einem dunklen Umfeld, in dem staatliche Zensur die Regel ist. Stimmt das?
Auf der Liste von "Reporter ohne Grenzen" liegt Katar aktuell auf Rang 128 von 180. Das könnte besser sein – und war auch mal besser. 2008 lag das Land auf Platz 74. Damals galt der katarische Sender Al Jazeera noch als erfrischend und frei in einer Welt gebeugter arabischer Medien – nur das Herrscherhaus und Religion waren tabu. Doch seit Vergabe der WM an Katar werden inländische Journalisten mundtot gemacht und ausländische bedrängt. Vor ein paar Monaten wurden norwegische Reporter eingesperrt und dann ausgewiesen. Und der jordanische Kommunikationschef des WM-Organisationskomitees, Abdullah Ibhais, muss nun für drei Jahre hinter Gitter, nachdem er sich für eine wahrheitsgetreue Berichterstattung über streikende Arbeiter eingesetzt hatte. Der gegen ihn gerichtete Vorwurf der Korruption scheint fragwürdig, Human Rights Watch und Fairsquare protestierten gegen das Urteil und mahnten ein faires Verfahren an.