Vor vier Monaten haben in Afghanistan die Taliban die Herrschaft an sich gerissen. Seither ließen die militanten Islamisten politische Gegner hinrichten, schränkten die Frauenrechte drastisch ein, zensierten das Fernsehen und verboten Musik. Zugleich bemüht sich die Regierung seit ihrer Machtergreifung Mitte August um internationale Anerkennung, fordert wirtschaftliche Unterstützung, die Freigabe eingefrorener Geldreserven und bittet um humanitäre Hilfe.
Denn in der Tat hat bisher nicht ein einziges Land der Welt die Taliban-Regierung anerkannt. Im Gengenteil: Nach dem Fall der gewählten Volksvertreter in Kabul wurde ein Großteil der internationalen Afghanistan-Hilfen eingestellt – auch aus Sorge, damit das neue Regime zu stützen. Die überwiegend in den USA liegenden Guthaben der afghanischen Zentralbank in Milliardenhöhe wurden eingefroren. Die bereits zuvor angeschlagene Wirtschaft befindet sich seither im freien Fall, Preise für Lebensmittel stiegen drastisch an und Millionen Menschen sind von Hunger bedroht oder hungern bereits.
Der Sprecher des politischen Büros der Taliban, Mohammad Naeem Wardak, hat jetzt in Doha dem US-Sender National Public Radio (NPR) in einem 40-minütigen Interview beschrieben, wie die Islamisten Afghanistan aus der Krise führen wollen und welche Ansprüche sie dabei an die internationale Staatengemeinschaft stellen.
Afghanistan fordert Anerkennung und Zugang zu Geldreserven
"Wir wollen mit der ganzen Welt und allen Ländern positiv umgehen", versicherte Naeem. "Wir wollen keine Probleme." Die Regierung in Kabul stehe nicht auf der Seite eines Landes gegen ein anderes, sondern strebe Beziehungen zu allen an. Und ihre Beziehungen zu einem Land gingen nicht auf Kosten eines anderen Landes. Das sei die Position Afghanistans gegenüber seinen Nachbarn, gegenüber den Ländern der Region und gegenüber den Ländern der Welt. "Wir wollen nicht Opfer regionaler und internationaler Konflikte sein."

Auf die Frage, was die Taliban unternähmen, um die vielen Probleme in Afghanistan zu lösen, wies der Sprecher jegliche Verantwortung für die prekäre Lage zurück: "In Wirklichkeit haben wir diese Probleme nicht geschaffen. Diese Probleme kamen von außen." Als größte Herausforderungen nannte Naeem in dem Zusammenhang die "wirtschaftliche Belagerung", den fehlenden Zugriff auf die von den USA eingefrorenen Geldreserven des Landes sowie "andere Probleme mit den Banken".
Die Taliban hätten ihre Aufgaben erfüllt, betonte Naeem. "Wir versuchen, wie Sie wissen, in ständigem Kontakt mit verschiedenen Regierungen und internationalen Gruppen, den USA, europäischen Ländern und so weiter zu sein. Wir versuchen, diese Gruppen davon zu überzeugen, das afghanische Volk und seine Rechte anzuerkennen und diese Belagerung und diese Probleme zu beenden."
Mit Druck auf das afghanische Volk werde das Ausland ohnehin nichts erreichen, stellte der Sprecher klar, denn das afghanische Volk stehe seit 40 Jahren unter Druck und werde nicht nachgeben. "Deshalb sagen wir, dass diese Bemühungen sinnlos sind, und der internationalen Gemeinschaft, insbesondere den Vereinigten Staaten, sagen wir, dass wir glauben, dass diese Probleme ein Ende haben werden, wenn sie diese Realitäten ebenso wie die afghanische Regierung anerkennen."
Taliban geben Besatzern Schuld an "verzerrtem Bild der Mädchen-Erziehung"
Auch was die von westlichen Ländern und Menschenrechtsorganisationen angeprangerten fehlenden Bildungschancen für Mädchen betrifft, sieht Naeem keinen Grund zu Selbstkritik. Es sei ein "heikles Thema", bei dem es "einige Probleme" gebe, räumte er im NPR-Interview ein, machte aber auch deutlich, wo er diese sieht und wem er die Schuld daran gibt: "Als [westliche Streitkräfte] nach Afghanistan kamen, führten sie einige Maßnahmen durch, die das Bild der Frauenerziehung in der afghanischen Bevölkerung verzerrten – zum Beispiel das Tanzen von Mädchen im Fernsehen, zum Beispiel, dass Frauen und Mädchen einige der kulturellen Normen der Gesellschaft aufgaben. All dies hat dazu geführt, dass der Großteil der afghanischen Gesellschaft ein verzerrtes Bild von der Mädchen-Erziehung hat."
Leider gebe es in Afghanistan – so wie in anderen Gesellschaften auch – falsche Traditionen und Bräuche, stellte Naeem fest. Zum Beispiel hätten Mädchen und Frauen in den meisten Regionen des Landes nicht das Recht zu erben, sich einen Ehemann auszusuchen oder zumindest einzuwilligen, dass ihr Vater oder andere das für sie tun. Und wenn der Ehemann einer Frau sterbe, gehe sie nach den Traditionen einiger Stämme in den Besitz des Patriarchen des Hauses, des Bruders ihres Mannes oder anderer über. Diese würden die Frau nach ihrem Gutdünken verheiraten, und es werde ihr nicht erlaubt, selbst zu wählen.

Nach der hanafitischen Rechtsschule der Taliban erforderten solche Dinge aber die Einwilligung des betroffenen Mädchens, erklärte Naeem. Dazu gebe es auch mehrere Dekrete von Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada. Eines der ersten besage, dass eine Frau ein freies menschliches Wesen sei und niemand das Recht habe, sie als seine Sklavin zu betrachten oder zu glauben, dass sie keine eigene Wahl habe.
Tatsächlich dürfen Mädchen Berichten zufolge in weiten Teilen des Landes nach der 6. Klasse nicht mehr in die Schule gehen und Frauen nicht mehr zusammen mit Männern studieren. "Die Koedukation steht im Widerspruch zu den Grundsätzen des Islam sowie zu den nationalen Werten, Sitten und Gebräuchen", hatte der amtierende Minister für höhere Bildung, Abdul Baghi Hakkani, im September verkündet.
Die Situation sei "nicht ganz so", wie sie einige internationale Medien beschrieben, dass Mädchen in Afghanistan nicht zur Schule gehen dürften, behauptete Naeem dagegen. So seien die Privatuniversitäten für Mädchen offen. Zudem gebe es weiterführende Schulen von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, die für Mädchen geöffnet seien. Private Sekundarschulen seien im ganzen Land geöffnet und auch die öffentlichen Sekundarschulen seien in weiten Teilen des Landes sehr offen.
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Die Taliban seien weder gegen die Ausbildung noch gegen das Arbeiten von Frauen, versicherte Naeem. Ihre Religion gebiete ihnen sogar, Frauen das Recht auf Arbeit zu geben und unter den Taliban arbeiteten Frauen in Ministerien und anderen Bereichen sowie in den Medien. "Aber die Arbeit und die Ausbildung müssen so gestaltet und organisiert werden, dass sie mit den Traditionen unseres Volkes übereinstimmen."
Die Taliban hätten den USA Beweise dafür vorgelegt, dass alle Minderheiten und Stämme Afghanistans und auch die Frauen in der Kabuler Regierung vertreten seien, erklärte Naeem dem US-Sender. "Wir sehen und haben gesehen, dass Frauen in verschiedenen Bereichen arbeiten und lernen, aber wir versuchen, so Gott will, in Zukunft auch dieses Problem zu lösen."
Taliban wollen historische Monumente schützen
Auch zum den Schutz des afghanischen Kulturerbes äußerte sich Naeem gegenüber NPR: Diese Aufgabe sei dem Informationsministerium übertragen worden, erklärte er. Es habe gemeinsam mit dem Bildungsministerium mit Nachforschungen in verschiedenen Provinzen begonnen, um die alten Denkmäler, die in Museen und an anderen Orten zu finden seien zu bewahren. "Sie sind Teil unserer Geschichte und Teil der Identität des afghanischen Volkes, die etwa 5000 Jahre zurückreicht", sagte der Sprecher. "Wir werden sie also bewahren, und wir haben kein Problem mit dem Erbe und den historischen Monumenten."
Während der ersten Taliban-Herrschaft in Afghanistan hatten sich die Islamisten weniger geschichtsbewusst gezeigt: Im März 2001 zerstörten sie die eineinhalb Jahrtausende alten, größten stehenden Buddha-Statuen der Welt im Bamiyan-Tal. Auch nach ihrer erneuten Machtergreifung im August sollen sie eine Statue eines Hazara-Anführers, der schiitischen Minderheit in der Region, in die Luft gesprengt und Kunstschätze aus einem Museum in Bamiyan geplündert haben.
Quelle: National Public Radio