Syrien vor dem sechsten Kriegswinter: 450.000 Menschen sind gestorben, mehr als zehn Million zu Flüchtlingen geworden, große Teile des Landes liegen in Trümmern. Nahezu eine Million Menschen leben in Aleppo und anderen Städten des Landes im Belagerungszustand und sind von der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser fast vollständig abgeschnitten.
Selbst in Gegenden des Landes, die nicht regelmäßig von Luftangriffen, Artilleriefeuer und Anschlägen erschüttert werden, gibt es kein Entrinnen. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung lebt in Armut. 2011, vor Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime, lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Syrien mit 75 Jahren fast auf europäischem Niveau. Inzwischen ist sie auf 55 Jahre gesunken.
Das sind die düsteren Perspektiven für Syriens 7,5 Millionen Kinder. Und ein Ende des Leids ist nicht in Sicht. Denn keine der kriegführenden Parteien ist in der Lage, ihre Ziele zu erreichen. Die scheinbar einzige Option: Weiterkämpfen.
Das Assad-Regime
Syriens Präsident Baschar al-Assad weiß: Jeder Kompromiss, jede Verhandlungslösung wäre der Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Ein Vernichtungssieg über seine Gegner ist seine einzige Option. Mit Russlands Luftwaffe und von Iran geführten Milizen im Rücken glaubt er, ganz Syrien zurückerobern zu können. Doch das wird kaum gelingen: Russland und Iran können Assad zwar helfen, Rebellengebiete wie den Ost-Teil von Aleppo zurückzugewinnen. Doch Assad hat nicht genug Truppen, um eroberte Gebiete dauerhaft seiner Herrschaft zu unterwerfen.
Viele Assad-treue Milizen haben außerdem wenig Interesse an einem Ende des Kriegs. Denn sie verdienen gut an ihm. Vielerorts hat sich eine regelrechte Belagerungs-Wirtschaft entwickelt. Assad-Truppen, die aufständische Orte abriegeln, verkaufen Lebensmittel und Medikamente zu Wucherpreisen an die Belagerten. Diese Truppen zu Kampfeinsätzen gegen Aufständische an anderen Orten zu bewegen, ist für Assad kaum möglich. Allein schon, weil es ein schlechtes Geschäft für sie wäre.
Die Rebellen
Weil Unterstützung aus dem Ausland ausblieb, kann die bewaffnete Opposition in Süd- und Zentral-Syrien dem Regime im Moment kaum noch gefährlich werden. Im Norden, vor allem in der Provinz Idlib südwestlich von Aleppo, halten Tausende gut bewaffnete Rebellen aber weiter ein großes Gebiet. Viele von ihnen haben sich unter Führung der Aleppo-Eroberungs-Front, früher als al-Qaida-nahe Nusra-Front bekannt, zusammengetan.
Die Radikalisierung der Rebellen ist eine direkte Folge des eskalierenden Konflikts um Aleppo. Im August gelang es den Islamisten für Tage, eine Bresche in den Belagerungsring um Aleppo zu schlagen. Nun hat nach wochenlanger Vorbereitung eine neue Offensive der Rebellen gegen die Belagerung von Aleppo begonnen. Dauerhaft erobern können die Rebellen die Großstadt gegen die Übermacht der russischen Luftwaffe nicht. Aber schon kleine Erfolge könnten die Pläne des Regimes für die Rückeroberung Aleppos um Wochen zurückwerfen und würden den Radikalen neuen Zulauf bescheren.
Russland
Wladimir Putin will Russlands Machtanspruch im Nahen Osten durchsetzen und der Welt beweisen, dass sein Land wieder eine Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sei. Die Hilflosigkeit, mit der der Westen dem rücksichtslosen Luftkrieg Russlands in Syrien zusieht, lässt es im Moment so scheinen, als gehe Putins Kalkül auf.
Es ist nicht auszuschließen, dass der Widerstand im belagerten Ostteil Aleppos in den kommenden Wochen oder Monaten im russischen Bombenhagel zusammenbricht. Doch was dann? Auf absehbare Zeit kann nur das Assad-Regime Russlands Interessen in Syrien garantieren. Und Assads Herrschaft ist ohne militärisches Back-up aus Russland und Iran auf absehbare Zeit undenkbar.
USA
Für US-Präsident Barack Obama ist der Kampf um die Macht in Syrien von Anfang an vor allem eines gewesen: "Someone else's war" – ein Krieg, mit dem die USA nichts zu tun haben wollen. Darum beschränken sich die Amerikaner auf das Minimalziel, den IS zu besiegen. Kurz nach Beginn des Angriffs auf das nord-irakische Mossul sollen von den USA unterstützte Bodentruppen nun auch das ost-syrische Raqqa zurückerobern. Dort liegt die Kommandozentrale der Terrororganisation, die neue Terroranschläge im Westen vorbereiten soll.
Doch ob der IS so bald aus Raqqa vertrieben werden kann, scheint fraglich. Die einzig schlagkräftigen Bodentruppen, auf die die USA zurückgreifen können, sind die Einheiten der syrisch-kurdischen YPG-Miliz. Doch die hat in jünster Zeit wichtige Gebiete um die Stadt Manbidsch in Nord-Syrien erobert. Dort steht sie türkischen Truppen gegenüber, die ihrerseits in Syrien interveniert haben, um den Vormarsch der YPG zu stoppen. Unwahrscheinlich, dass die YPG bereit sein wird, ihre Kämpfer aus Manbidsch nach Raqqa zu schicken und den Türken damit eine offene Flanke zu bieten. Zumal Raqqa mehrheitlich von Arabern bewohnt ist und die Kurden dort nicht als Befreier willkommen wären.
Die Türkei
Jahrelang hat sich Präsident Recep Tayyip Erdogan als Schutzherr der syrischen Sunniten und Patron des Widerstands gegen Assad aufgespielt. Doch nun wendet sich das Blatt. Der Grund: Die Gebietsgewinne der von den USA unterstützten Kurden in Nordsyrien sind dem Nato-Land Türkei ein größerer Dorn im Auge, als das mörderische Assad-Regime. Darum hat sich Erdogan nach monatelanger Eiszeit auch öffentlich mit Russlands Präsident Wladimir Putin versöhnt. In Nordsyrien scheint sich ein russisch-türkisches Arrangement abzuzeichnen: Eine von Damaskus und Moskau akzeptierte "Schutzzone" nördlich von Aleppo unter türkischer Kontrolle. Die würde einer weiteren kurdischen Expansion den Riegel vorschieben – was im türkischen Interesse liegt. Und sie könnte auch für Russland und Assad nützlich sein: Irgendwo müssen die 250.000 belagerten Einwohner von Ost-Aleppo ja hin, wenn die Stadt zurückerobert werden soll.
Die türkische Intervention in Syrien ist indes gerade denen ein Dorn im Auge, die seit langem Schutzzonen für die Zivilbevölkerung fordern: Europa und den USA. Denn sie erschwert den Kampf gegen den IS, für den der Westen auf die Kurden angewiesen ist. Erdogans Vorschlag, statt der Kurden könnten türkische Truppen Raqqa erobern, trauen die Amerikaner nicht.
Iran
Angesichts der Schreckensmeldungen über russische und syrische Luftangriffe auf Schulen, Krankenhäuser, Bäckereien und Märkte geht die Rolle Irans im syrischen Krieg fast unter. Dabei spielt Teheran für das Überleben des Assad-Regimes eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie Russland. Denn ohne von Iran und der mit Iran verbündeten libanesischen Hisbollah ausgerüstete, trainierte und finanzierte Schiiten-Milizen am Boden wäre Assad längst am Ende.
Eine Rückeroberung Aleppos ohne schiitische Söldner aus dem Libanon, Iran, Irak, Afghanistan: Undenkbar. Doch auf diese Truppen kann Assad sich nicht dauerhaft verlassen. Gerade für die schlagkräftigen Schiiten-Einheiten aus dem Irak spielt der Krieg in Syrien nur eine Nebenrolle. Ihren Kommandeuren geht es vor allem darum, ihre Macht in der Heimat auszubauen. Der Kampf um Mossul ist ihnen wichtiger als der um Aleppo.