Im März 2000, das Budapester Abkommen war keine sechs Jahre alt, sah sich das belarussische Außenministerium gezwungen, einen heiklen Bericht einer Moskauer Zeitung zu dementieren. In der "Nowaja Iswestija" hieß es, Russland wolle Atomwaffen in das Nachbarland verlegen – entgegen der Abmachung aus dem Jahr 1994. Ural Latypow, Vertreter der Minsker Regierung, beschwichtigte schnell: "In der weißrussischen Verfassung ist eindeutig festgelegt, dass unser Land atomwaffenfrei ist. Und dabei wird es auch bleiben", sagte er.
"... und dann gibt es Atomwaffen für alle"
Jetzt, 23 Jahre später, sind diese Worte wie die Verfassung längst überholt. Mehr noch: Alexander Lukaschenkos isoliertes Reich besitzt nicht nur wieder nukleare Sprengköpfe, der Diktator ist sogar gewillt, sie großzügig mit gleichgesinnten Staaten zu teilen. Er würde es begrüßen, wenn "Kasachstan und andere Länder ähnlich enge Beziehung zur Russischen Föderation hätten, wie wir", sagte der belarussische Präsident jetzt in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender Russland 1. "Es ist ganz einfach: Werdet Teil der Russisch-Belarussischen Union und dann gibt es Atomwaffen für alle", so Lukaschenko weiter.
Die Union der beiden Länder ist bislang ein eher halbherziger Versuch eines Staatenbundes. Einige osteuropäische Staaten wie Bulgarien und Moldau waren vor Jahren eingeladen worden, beizutreten, hatten aber dankend abgelehnt. Erst vor einigen Tagen verkündete der kasachische Präsident Qassym-Schomart Tokajew, dass sein Land dem Bündnis ebenfalls fernbleiben wolle. De facto ist Putin ohnehin dazu übergegangen, sich Belarus einzuverleiben und zu einer russischen Provinz zu machen.
Kasachstan sieht Union kritisch
Einem ähnlichen Schicksal will Tokajew offenbar entgehen: "Die Formel 'Zwei Länder – ein Staat' (Russland und Belarus, d. Red.) schafft einen einzigartigen Präzedenzfall mit einem einzigen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Raum“, sagte er jetzt, "sogar Atomwaffen werden jetzt geteilt". Kurz vor Pfingsten hat Russland begonnen, "atomare Kampfstoffe nach Belarus zu verlegen", wie Lukaschenko sagte. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Kremlchef Wladimir Putin das Land ohne Zustimmung seines Kollegen in Minsk mit Atomwaffen beglückt.
Mit der Aufrüstung verstößt Russland abermals gegen das Budapester Memorandum. In dem Abkommen wurde Ende 1994 vereinbart, dass die nach der Auflösung der Sowjetunion in der Ukraine, Belarus und Kasachstan verbliebenen Atomwaffen nach Russland gebracht werden, und im Gegenzug die Souveränität der drei Staaten garantiert wird. Bereits mit der Annektierung der Krim 2014 und der Invasion in der Ukraine 2022 missachtete die Führung in Moskau das Budapester Abkommen.
Lukaschenko: "Musste Vertrag unterschreiben"
Lukaschenko hatte die Vereinbarung bereits vor Jahren bedauert: "Ich musste den Vertrag damals unterschreiben, weil Russland und die USA Druck auf mich ausübten", sagte er 2010 dem Rundfunksender Echo Moskwy. Es sei "falsch gewesen, dass sein Land nicht zumindest im Gegenzug für die Rückgabe der Atomwaffen etwas ausgehandelt hat. Diese wertvolle Ware hätten wir anständig verkaufen sollen", so Lukaschenko. Dem Diktator wird immer wieder vorgeworfen, illegalen Waffenhandel zu betreiben, darunter auch mit dem Irak unter dem damaligen Staatschef Saddam Hussein.

Als Wladimir Putin im März ankündigte, nukleare Sprengköpfe nebst Iskander-Trägerraketen nach Belarus zu verlegen, betonte sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu ausdrücklich, dass Kontrolle sowie Entscheidung über einen Einsatz bei der russischen Seite verbleiben würden. Lukaschenko erklärte später, dass er im Notfall auch strategische Atomwaffen von Moskau bekommen könne – und selbst über einen Einsatz entscheiden könne. Dies aber dementierte Russland. Und nun stellt sich Lukaschenko hin und bietet die frischstationierten Atomwaffen feil, wie ein Marktschreier am Fischstand. Wenn auch ohne weitere Erläuterungen.
USA werden "nukleare Haltung nicht anpassen"
Seine Äußerungen nähren aber Befürchtungen, dass Atomwaffen unkontrolliert weiterverbreitet und so in die falschen Hände gelangen könnten. Die belarussische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja wiederum kritisiert die Stationierung, weil das Land dadurch zu einem möglichen Ziel wird. "Wenn diese Waffen eingesetzt werden, wird das schreckliche Folgen haben. Für die Ukraine, aber auch für Belarus", sagte sie in einem Interview mit dem "Spiegel". Die USA bezeichnen die Verlegung als "verantwortungslos" und "Provokation", sehen aber keinen Grund, die "eigene nukleare Haltung anzupassen", wie es im Weißen Haus heißt.
Welches Land liefert welche Waffen in die Ukraine?
Inwieweit die Worte des 68-jährigen Diktators Alexander Lukaschenko Ernst zu nehmen sind, ist allerdings unklar. Zuletzt hatte er offenbar gesundheitliche Probleme, tauchte nach längerer Abwesenheit aber wieder zufrieden lächelnd im Staatsfernsehen auf. Seit fast 30 Jahren herrscht er über Belarus, doch schon seit längerem sind er und sein Land vom Wohl und Wehe Moskaus abhängig. Mit Kremlchef Putin verband ihn lange eine Katz- und-Maus-Partnerschaft, die teilweise in offene Ablehnung gekippt war. Über ihn sagte er 2015 bitter-ironisch: "Ich danke Putin dafür, dass ich nicht länger Europas letzter Diktator bin." Mittlerweile ist Belarus zu einem Vasallen Moskaus und Atomwaffenempfänger abgestiegen.
Quellen: DPA, AFP, CNN, T-Online,Deutschlandfunk, "Spiegel", Radio Free Europe