Seit einem halben Jahr sitzt der berühmteste politische Gefangene Russlands in einem Gefängnis, das als die brutalste Anstalt des Landes verschrien ist. Alexej Nawalny muss seine Haftstrafe in der Justizvollzugskolonie Nr. 2 in der Region Wladimir absitzen – kurz IK 2 oder Pokrowskaja-Kolonie genannt. Ehemalige Häftlinge berichten von psychischer Folter, physischer Misshandlungen und strengstem Regime, das das Leben in IK 2 bestimmen.
"Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es möglich ist, ein echtes Konzentrationslager nur 100 Kilometer von Moskau entfernt zu errichten", schrieb Nawalny kurz nach seiner Verlegung in die gefürchtete Haftanstalt. "Erziehung durch Entmenschlichung", laute hier das Motto. Er selbst habe noch keine Gewaltanwendungen erlebt, diktierte er damals seinen Anwälten. Aber "aufgrund der angespannten Haltung der Sträflinge, die Angst haben, auch nur den Kopf zu drehen, glaube ich die Geschichten gern, dass hier in IK 2 noch bis vor kurzem Menschen mit Holzhämmern fast zu Tode geprügelt wurden". Jetzt herrsche stattdessen psychischer Terror.
Handverlesene Abteilung
Nariman Osmanow und Ewgenij Burak waren daran beteiligt, ein Regime des psychischen Terrors für Nawalny zu errichten – unfreiwillig. Sie saßen zusammen mit dem prominenten Häftling ein und wurden gezwungen an der Schikane teilnehmen. In einem Interview mit dem unabhängigen russischen TV-Sender Dozhd berichteten sie nun, mit welchen Methoden die Leitung der Kolonie den Oppositionspolitiker zu brechen versucht.
Demnach wurden die Häftlinge, die zusammen mit Nawalny in der Abteilung der IK 2 sitzen sollten, händisch ausgesucht. Alle hätten vor der Ankunft des Kreml-Gegners genaue Instruktionen erhalten. Allen sei verboten worden, mit ihm zu reden. "Er war vollständig isoliert. Und wir haben natürlich mit ihm gelitten. Um ehrlich zu sein, habe ich mich mental immer noch nicht davon erholt", berichtete Omanow.
Er selbst sei 2015 aus Aserbaidschan nach Russland gekommen, habe anderthalb Jahre in IK 2 verbracht und habe gar nicht gewusst, wer Nawalny war. Was einer der Gründe sein mag, wieso er ausgewählt wurde.
"Am ersten Tag, als wir uns zum Tee in die Küche setzten, wollte er mich etwas fragen. Ich trat ihn unter dem Tisch und sagte, er sollte das bloß nicht machen. Später kam er auf mich zu und fragte, wo es hier einen sicheren Ort gibt. Auf dem Sportplatz, antwortete ich. Dort, wo man Klimmzüge machen kann“, erzählte der ehemalige Häftling.
Nawalny beherzigte offenbar diesen Ratschlag. Im Verlauf des letzten halben Jahres demonstrierte das russische Staatsfernsehen immer wieder Aufnahmen von Überwachungkameras aus dem Gefängnis. Sie zeigten, wie der 45-Jährige auf dem Sportplatz hin und her geht. Die Kreml-Propagandisten verkauften die Aufnahmen als Beweis für das Wohlbefinden Nawalnys in Haft. In Wahrheit ist der kleine Hof einer der wenigen Plätze in der Haftanstalt, wo man vor physischen Übergriffen verhältnismäßig sicher ist.
"Du sitzt auf der Kloschüssel, er hockt vor dir"
Außer einer völligen Isolation ist Nawalny außerdem einer absoluten Überwachung unterworfen. "Er ist von 20 Leuten umgeben, die jedes seiner Worte dokumentieren", erzählte der ehemalige Mithäftling Nawalnys Burak. "Er kann keine einzige Bewegung machen, ohne dass es jemand erfährt."
In der Praxis sehe es dann so aus: "Er steht auf, will sich nur die Beine vertreten, da reiht sich einer vor ihm ein, einer hinter ihm. Sie spielen mit seiner Psyche. Er setzt sich hin, sie setzten sich um ihn." Jedes Wort werde notiert und am Abend der Gefängisleitung übergeben.
Osmanow bestätigte diese Schilderungen: "Sogar die Toilettentüren werden offengelassen. Aber auf der Toilette ist ohnehin immer einer dieser Beobachter dabei. Du sitzt, er steht. Du sitzt auf der Kloschüssel, er hockt vor dir. Mit einem Meter Abstand."
Wurst und Tuberkulose-Kranker gegen Hungerstreik
Als Nawalny im April in einen Hungerstreik trat, griff die Leitung des Gefängnisses zu ausgefeilten Methoden. "Um sechs oder sieben Uhr morgens brachten die Hausmeister einen halben Sack Würste, stellten Pfannen auf und brieten sie, sodass es überall danach roch", berichtete Osmanow.
Als der Hungerstreik den Verführungsversuchen zum Trotz andauerte, habe man auf Schreck gesetzt und behauptet, der Bettnachbar von Nawalny leide an Tuberkulose – in einer hochansteckenden Form. "Sie gaben ihm Lumpen. Damit sollte er jeden Spalt sauber machen, um sich nicht anzustecken." Osmanow sei es gelungen, Nawalny zu verraten, dass das Ganze eine Inszenierung sei. "Der Mann hat so eine Niedertracht noch nicht gesehen. Zumal er den 13. oder 15. Tag hungerte und sehr schwach war. [...] Danach kam er langsam zur Besinnung. Er hat gemerkt, dass dies wieder ein Spiel ist", erinnerte sich der ehemalige Häftling.
Schmierfilm gegen Alexej Nawalny
Drei Wochen hielt Nawalny den Hungerstreik trotz der Schikanen aus. Als er anschließend im Krankenhaus behandelt werden musste, nutzte die Gefängnisleitung die Zeit, um eine neue Methode zu ersinnen, um ihn zu demütigen. In der ganzen Kolonie sei ein eilends zusammengeschusterter Film gezeigt worden, in dem der Oppositionspolitiker als Homosexueller dargestellt wird. Das berichteten Osmanow und Burak übereinstimmend.
In dem Film "grüßt er jemanden und dann werden Sexszenen zwischen Männern gezeigt und behauptet, es seien seine Mitarbeiter", erklärte Osmanow die Machart des Werks. In der russischen Gesellschaft ist Homophobie nach wie vor tief verankert und gerade in Gefängnissen können solchen Anschuldigungen höchst gefährlich werden.
Ein "Hahn" für schlaflose Nächte
Eine andere Methode, die in russischen Haftanstalten weit verbreitet ist, ist Schlafentzug. Nach Darstellung von Osmanow, habe man in den ersten drei Tagen nach Nawalnys Rückkehr aus dem Krankenhaus ihn nicht schlafen lassen. Auf das Bett neben dem Oppositionspolitiker habe man einen sogenannten Hahn postiert – eine Bezeichnung für Männer, die in der Gefängnishierarchie zu der untersten Kaste gezählt werden. Seine Aufgabe bestehe darin, Nawalny auf die Nerven zu gehen. "Er macht verschiedene Geräusche. Oder fängt an zu masturbieren. Die ganze Nacht lang rülpst und spuckt er, damit du nicht einschläfst", schilderte Osmanow das Geschehen. Die Gefängnisleitung habe ein einziges Ziel: "Alle, die nicht gehorchen, zu brechen."
Zuerst vergiftet, dann verurteilt
Der 45-jährige Kreml-Kritiker hatte im Sommer vergangenen Jahres einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebt. Nawalny macht den Kreml für den Anschlag verantwortlich. Anfang dieses Jahres wurde er in Russland festgenommen und wegen angeblicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen zu mehr als zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Urteil des russischen Gerichts steht als politisch motiviert in der Kritik. Das EU-Parlament fordert seine sofortige Freilassung. Zahlreiche Menschenrechtler und Aktivisten sind seit Nawalnys Verurteilung Anfang vergangenen Jahres aus Russland geflohen.