Während die halbe Welt auf die Front in der Ukraine schaut, übt Wladimir Putin hinter den Linien weiter Vergeltung an seinem Erzfeind. Am 14. Juni wurde der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in die Hochsicherheits-Strafkolonie in Melechowo in der Region Wladimir verlegt. Die Justizvollzugskolonie Nr. 6, kurz IK-6 genannt, liegt knapp 250 Kilometer östlich von Moskau und ist als Folterkammer berüchtigt. Hier soll der Oppositionsführer mindestens neun Jahre seines Lebens in Haft verbringen – wenn es nach dem Willen des Kremls geht. (Mehr über die grauenhaften Zustände in der Haftanstalt erfahren Sie hier.)
Doch auch wenn die Gefängnisleitung immer weiter die Schraubstöcke zuzieht, um das Leben in Haft für Nawalny unerträglich zu machen, gibt der Oppositionspolitiker den Kampf gegen das Regime Wladimir Putins nicht auf. Über seine Anwälte richtet der 46-Jährige einen eindringlichen Appell an die westlichen Gesellschaften: "Putins Krieg in der Ukraine dauert seit einem halben Jahr an. Vom ersten Tag an haben die Führer des Westens entschieden erklärt, dass Putins Oligarchen und korrupte Beamte Sanktionen erwarten, denen sie dieses Mal nicht entkommen werden. Aber sie sind ihnen entkommen", so Nawalny in seiner Botschaft, die auf sozialen Netzwerken verbreitet wird.
Den großen Worten der westlichen Politiker würden keine Taten folgen, prangert der Erzfeind Putins an. Von den 200 Personen, die auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen Russlands stehen, seien gerade mal 46 unter EU-, US- oder UK-Sanktionen. "Das kommt meiner Meinung nach einem erklärten Krieg gegen Putins Oligarchen nicht sehr nahe", resümiert Nawalny und führt einige Namen an, die erstaunlicherweise tatsächlich nicht auf den westlichen Sanktionslisten auftauchen.
Keine EU-Sanktionen für Gazprom-Chef
Einer der Namen lautet Alexej Miller, der Vorstandsvorsitzende und stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende des staatlich kontrollierten größten russischen Konzerns und weltgrößten Energielieferanten Gazprom. "Wie ist es überhaupt möglich, dass Gazprom-Chef Miller, Putins wichtigster Vertrauter seit den 90er Jahren, immer noch nicht auf der europäischen Sanktionsliste steht? Ein Mann, der Gazprom buchstäblich gestohlen hat und jetzt Putins Familie und Geliebte sponsert?", will Nawalny wissen.
Miller gehört seit Jahrzehnten zum engsten Kreis Putins. Ihr gemeinsamer Weg begann wie im Fall von so vielen Putins Vertrauten in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg in den 90er Jahren. Damals arbeitetet Miller für das Komitee für wirtschaftliche Reformen und später im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten. Putin war dort sein Chef. Und er nahm seinen treuen Untergebenen bei seinem Aufstieg zur Macht mit. Seit 2001 Ist Miller CEO von Gazprom.
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"Alexej Miller hat Putins Vertrauen. Er ist jemand, der bedingungslos loyal ist. Putin gibt die Befehle, Miller setzt sie um", sagt Alexander Gabujew, Analyst des Energiemarktes bei des Carniege Zentrums, einer Denkfabrik, die sich auf Innen- und Außenpolitik konzentriert.
Auch im Krieg in der Ukraine steht Miller treu an der Seite Putins. Seine Waffe ist der Gas-Hahn. Er drosselt die Lieferungen und droht damit, unter anderem Deutschland in diesem Winter in Dunkelheit und Kälte zu stürzen.
Seit 2018 steht Miller auf der Sanktionsliste der USA. Auch Großbritannien hat den Gas-Baron mit Sanktionen belegt, weil er von Putins Machenschaften profitiert und "Aktivitäten unterstützt", die die ukrainische Souveränität schwächen. Nur auf der Sanktionsliste der EU steht er noch nicht.
Nickel-Magnat komplett von Sanktionen verschont
Aber da ist er in bester Gesellschaft. Die Nummer zwei der russischen Forbes-Liste steht sogar nirgendwo unter Sanktionen: Wladimir Potanin. Auch wenn sein Vermögen wegen des Krieges um 9,7 Milliarden auf 17,3 Milliarden Dollar gesunken ist, bleibt der Nickel-Magnat einer der reichsten Männer Russlands – und gilt als loyaler Geldgeber Putins.
"Der Oligarch Potanin lobt Putin öffentlich. Er prahlt damit, dass ihm Sanktionen egal sind. Dass es westliche Politiker sind, die nicht wissen, was Unannehmlichkeiten und Unbequemlichkeiten sind, aber er werde alles für Putin ertragen", schreibt Nawalny über Potanin. Für einen Mann, der bislang von jeglichen Sanktionen verschont geblieben ist, werden es aber wohl nicht viele Unannehmlichkeiten sein, die er ertragen muss.
Der mutmaßliche Grund: Potanins Bergbauunternehmen Nornickel ist von großer Bedeutung für den globalen Metallrohstoffmarkt. Potanin kontrolliert Bloomberg zufolge 35 Prozent von Nornickel, dem weltweit größten Produzent von Nickel (Weltmarktanteil 14 Prozent), das insbesondere für die Batterieproduktion benötigt wird. Zudem ist Nornickel einer der wichtigsten Produzenten von Palladium, das unter anderem bei der Herstellung von Halbleitern und Katalysatoren zum Einsatz kommt. 40 Prozent Marktanteil hält hier Nornickel. Beobachter vermuten, dass Potanin und seine Bergbaufirma nicht sanktioniert werden, weil die westlichen Staaten die ohnehin hohen Metallpreise und Lieferengpässe nicht weiter auf die Spitze treiben wollen.
Die Trickkiste von Lisa Peskowa und Dmitri Medwedew
Während die einen gar nicht erst auf die Sanktionslisten kommen, wie etwa der Öl-Magnat und einer der Finanzierer des berüchtigten Putin-Palasts am Schwarzen Meer Ziad Manasir, finden andere leichte Wege, die Sanktionen zu umgehen, kritisiert Nawalny. Ein anschauliches Beispiel: "Lisa Peskowa, die Tochter von Putins Pressesprecher Peskow, überschrieb eine Wohnung in Paris, die ihr Vater ihr überlassen hatte, ihrer Mutter (die einen anderen Nachnamen hat). Die Wohnung ist jetzt sicher, gut gemacht, Lisa", kommentiert Nawalny spitz.
"Sogar der wahnsinnige Freak Medwedew, der täglich den Krieg besingt und droht, alle Nachbarländer zu besetzen, konnte die Europäische Union um den Finger wickeln, indem er seine Jacht 'Fotinia' einfach auf irgendeine Firma umregistrierte. Nun parkt sie seelenruhig in Finnland." gemeint ist der ehemalige russische Präsident und der neueste Anwärter auf den Posten des Hofnarren des Kremls, Dmitri Medwedew. (Mehr dazu lesen Sie hier.)
"Wir können nicht auf eine Spaltung der Putin-Elite in Bezug auf den Krieg warten, wenn trotz vieler Ankündigungen nicht die versprochene Peitsche geschwungen wird. Und Zuckerbrot haben sie selbst genug", betont Nawalny. "Ich fordere alle Wähler und Gesetzgeber in der EU, Großbritannien, den USA und Kanada auf, Druck auf die Exekutive auszuüben und sie zu zwingen, mit der Demagogie aufzuhören und sofort zu massiven persönlichen Sanktionen gegen Putins Diebe übergehen." Im Gegensatz zu schwierigen politischen Entscheidungen wie etwa einem Embargo auf Öl und Gas, gebe es einfache Mittel: "Persönliche Sanktionen. Hier ist nichts als politischer Wille gefragt."
"Lassen Sie uns nicht vergessen: Sanktionen sind notwendig, um den Aggressor zur Beendigung des Krieges zu zwingen", erinnert Nawalny.
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