Alexej Nawalny bei seinem ersten Prozess in Moskau. Ein Gericht hatte die Haftstrafe gegen den Oppositionellen im Mai auf neun Jahre erhöht, nachdem es ihn wegen der angeblichen Veruntreuung von Spenden für seine politischen Organisationen verurteilt hatte.
Still und heimlich wurde der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in eine der gefürchtetsten Strafkolonien Russlands verlegt. Die Haftanstalt IK-6 hat den Ruf einer Folterkammer. Ehemalige Häftlinge berichten von Vergewaltigungen und Terror.
Während die halbe Welt auf die Front in der Ukraine schaut, übt Wladimir Putin hinter den Linien weiter Vergeltung an seinem Erzfeind. Am 14. Juni wurde der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in die Hochsicherheits-Strafkolonie in Melechowo in der Region Wladimir verlegt. Die Justizvollzugskolonie Nr. 6, kurz IK-6 genannt, liegt knapp 250 Kilometer östlich von Moskau und ist als Folterkammer gefürchtet. Hier soll der Oppositionsführer mindestens neun Jahre seines Lebens in Haft verbringen – wenn es nach dem Willen des Kremls geht.
Am Mittwoch meldete sich Nawalny aus der neuen Haftanstalt zu Wort: "Die Raumfahrt geht weiter – ich habe ein Raumschiff gegen ein anderes getauscht", ließ er seine Anwälte in seinem Namen über soziale Netzwerke verbreiten. Seine Inhaftierung vergleicht die Galionsfigur der russischen Opposition gerne sarkastisch mit einem Flug ins All – und berichtet regelmäßig aus der bizarren Welt hinter Gittern. Noch hat Nawalny aber nicht viel aus seinem neuen Gefängnis zu berichten. Er sei erst einmal in Quarantäne und mache sich mit der Liste der Berufe vertraut, die man in der Strafvollzugsanstalt erwerben kann.
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Alexej Nawalny bleibt trotzig
So könne man innerhalb von drei Monaten zum Näher ausgebildet werden. Diese Ausbildung hat Nawalny schon in seiner ersten Haftanstalt durchlaufen. "Stellen Sie sich vor, wer sich für den Beruf des 'Vogelkadaver-Wälzers' entscheidet, erlernt diesen auch in drei Monaten! Das heißt, sie werden uns Nähern gleichgestellt. Was soll man denn da drei Monate lang lernen!? Panieren sie diese Kadaver mit Strasssteinen oder was? Ich bin empört", scherzt Nawalny mit seiner ihm eigenen Ironie.
"Aber ansonsten ist alles ok. Ich grüße und umarme alle, und esst eure Vögel ohne Panade", fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Monströser Ort
Während Nawalny gute Miene zum bösen Spiel macht, wächst unter seinen Anhängern und Mitstreitern die Sorge um ihn. Die Strafkolonie IK-6 sei "berüchtigt dafür, dass seine Insassen gefoltert und getötet werden", warnte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch noch im Mai, als erste Informationen aufgetaucht waren, dass der 46-Jährige dorthin verlegt werden soll. Die Haftanstalt "ist selbst nach verrückten Maßstäben ein monströser Ort.... Die Zustände dort sind ohnehin schlechter als in anderen Gefängnissen: weniger Pakete, weniger Besuche. Aber es ist auch eines der fürchterlichsten russischen Gefängnisse."
In der Vergangenheit berichteten mehrere Zeugen über Folter in der Haftanstalt. 2018 erzählte die Zeitung "Nowaja Gazeta" die Geschichte von Gor Owakimjan, der wegen eines angeblichen Drogendelikts eine Haftstrafe im IK-6 verbüßt hatte. Gegenüber seinen Verwandten klagte er über Folter. Man habe ihn mit einer Gürtelschnalle in den Unterleib geschlagen, ihm einen Eimer auf den Kopf gesetzt und laute Musik eingeschaltet, um ihn zu betäuben. Anschließend habe man Gas aus einer Sprühdose unter den Eimer gesprüht. Die Angehörigen von Owakimjan glaubten, die Folter sei die Vergeltung dafür, dass er sich weigerte, mit der Leitung der Kolonie zusammenzuarbeiten.
"Finger und Zehen gebrochen, die Genitalien verletzt"
Als Owakimjan in Haft starb, wurde als Todesursache Lungenentzündung angegeben. Die Angehörigen erkämpften sich jedoch den Zugang zu seinem Leichnam und hielten zahlreiche Spuren von Gewalteinwirkung fest: "Wir haben im städtischen Leichenschauhaus alles auf Video festgehalten: Unter dem Arm waren Spuren eines Elektroschockers zu sehen, Finger und Zehen waren gebrochen, die Genitalien waren verletzt, am Oberschenkel befand sich ein riesiges Hämatom, auf dem Rücken prangte ein riesiger schwarzer Streifen, das Gesäß war mit Spuren eines Elektroschockers übersät", berichtete damals die Schwester des Verstorbenen. "Es gab keine heile Stelle mehr an seinem Leib. Nur sein Gesicht war unberührt."
Wegen des Falls wurden anschließend Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet – ergebnislos.
Ehemaliger Häftling gesteht Teilnahme an Folter
Iwan Fomin nahm nach eigenen Angaben an der Folter teil, infolge derer Owakimjan verstorben war. Der ehemalige Häftling des IK-6 berichtete in einem Brief an die unabhängige Plattform "Mediazona" von seiner Beteiligung und erklärte, dass er auf Anweisung der Gefängnisleitung von anderen Häftlingen zur Teilnahme an Folterungen gezwungen worden sei.
Fomin berichtete von Vergewaltigungen von Häftlingen mit Schaufeln. Er selbst sei geschlagen und mit sexueller Gewalt bedroht worden. Außerdem habe man ihn gezwungen, zur Orthodoxie zu konvertieren. Bevor er im Gefängnis landete, war Fomin zum Islam übergetreten.
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Auch der Häftling Artem Gribanow berichtete gegenüber der Menschenrechtsorganisation Gulag.net über sexuelle Gewalt in IK-6. Sein erschreckender Bericht: "Ich wurde mit Gewalt in das Büro gedrängt. Auf dem Boden lagen zwei Matratzen, sechs Personen standen in Masken: fünf von ihnen trugen die Kleidung von Angestellten, der sechste eine Häftlingsrobe wie meine. Sie warfen mich auf diese Matratzen, fesselten meine Beine und Arme, zogen meine Hose aus und setzten sich auf meinen Rücken. Sie fingen an, ein Kondom auf einen Schlagstock zu ziehen, ein richtiges Kondom. Danach kamen sie von hinten und begannen, den Schlagstock in meinen Anus einzuführen."
Wladimir Perewerzin, der frühere Manager von Yukos, eines der größten Konzerne Russlands für Erdölförderung, verbüßte seine Haftstrafe ebenfalls in IK-6 und berichtete von Folter. Ihm zufolge liegt die Macht in der Anstalt in den Händen von Häftlingen, die von der Verwaltung kontrolliert werden: "Du springst vom Transportwagen, sie durchsuchen dich und jagen dich durch eine Reihe anderer Gefangener. Sie haben mich dort anständig verprügelt", erinnerte sich Perewerzin an seinen Aufenthalt in IK-6.
Häftlinge werden zu Folter-Knechten
Der Gründer des Menschenrechtsorganisation Gulag.net, Wladimir Ossetschkin, bestätigte, dass in russischen Gefängnissen Häftlinge als Folter-Knechte eingesetzt werden: "Einige Sträflinge werden selbst zu Elementen dieser Folter am Fließband." Die gründe, warum sich die Insassen an Folterungen beteiligen, seien unterschiedlich. Manche ließen sich aus Angst auf Gewalt gegen ihre Mitinsassen ein, andere für Vorzüge wie mildere Urteile, vorzeitige Freilassung oder auch nur für Alkohol. Zudem dienen Aufnahmen der Folter der Abschreckung, um von Gefangenen Geld zu erpressen. Kriminelle könnten bisweilen auch Strafaktionen gegen ihre Feinde im Gefängnis bestellen, heißt es.
"Entscheiden ist aber auch, dass die örtlichen Staatsanwaltschaften, der Untersuchungsausschuss und das Innenministerium bei zahlreichen Beschwerden und Informationen im Internet über solche Verstöße die Augen verschließen und Folter damit legalisieren", sagte der Menschenrechtsaktivist.
Im vergangenen Jahr hatte Gulag.net mehrere Terabyte an Videomaterial veröffentlicht, die Folter in russischen Gefängnissen dokumentieren. "Das Ausmaß an Folter, Korruption, unmenschlicher Behandlung und Morden übertrifft alles. Die Welt sieht nun diese massenhaften Verbrechen", kommentierte Ossetschkin. Das Ergebnis: Das russische Innenministerium setzte Ossetschkin auf die Fahndungsliste.