Der Gesundheitszustand von Alexej Nawalny verschlimmert sich weiter rasant. Dem führenden Oppositionspolitiker Russlands, der in dem gefürchteten Straflager IK 2 inhaftiert ist, droht Erkenntnissen seiner Ärzte zufolge ein Herzstillstand. Wegen kritischer Kaliumwerte könne es "jede Minute" zu einer eingeschränkten Nierenfunktion sowie ernsthaften Herzrhythmusproblemen kommen, erklärten die Mediziner in einem Brief an die russische Gefängnisbehörde, der am Samstag veröffentlicht wurde.
Den Unterlagen zufolge liegt der Kaliumwert im Blut von Nawalny bei 7,1 Millimol pro Liter. Gewöhnlich erfordere ein Kaliumwert von mehr als 6,0 eine umgehende Behandlung, erklären die Mediziner. Die Befunde sind im Gefängnis ausgestellt und an die Ehefrau von Nawalny ausgehändigt worden.
Die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Allianz der Ärzte und drei ihrer Kollegen, darunter ein Herz-Spezialist, fordern weiter den Zugang zu Nawalny, der ihnen verweigert wird – obwohl das russische Gesetz jedem Häftling den Anspruch auf die Behandlung durch Ärzte seines Vertrauens zusichert.
Der Kardiologe Jaroslaw Aschichmin warnte beim Onlinedienst Facebook: "Unser Patient kann jede Minute sterben." Er müsse auf eine Intensivstation verlegt werden. "Ein Patient mit einem solchen Kaliumspiegel muss auf einer Intensivstation beobachtet werden, da sich jederzeit tödliche Arrhythmien entwickeln können", schrieb der Herz-Spezialist. Die Nawalny-Vertraute Kira Jarmysch schrieb bei Facebook: "Alexej stirbt." Bei seiner Verfassung sei es "eine Frage von Tagen".
Am Montag kündigte die Gefängnisbehörde eine Verlegung Nawalnys in das Krankenhaus eines anderen Straflagers an. Der Oppositionspolitiker soll in der Haftanstalt IK-3 in der Stadt Wladimir eine "Vitamintherapie" bekommen, teilte die Behörde mit.
Fond von Alexej Nawalny legt Proteste auf Mittwoch vor
Angesichts der dramatischen Lage ziehen die Mitstreiter Nawalnys eine lange geplante Protestaktion vor und wollen bereits am 21. April in ganz Russland Demonstrationen abhalten.
"Es gibt Umstände, die zum schnellen Handeln zwingen, sonst geschieht das Irreparable", erklärten in einer Video-Botschaft Iwan Zhdanow und Leonid Wolkow, führende Mitarbeiter des Antikorruptionsfonds von Nawalny FBK. "Es ist nicht mehr möglich, zu warten. Eine extreme Situation erfordert extreme Lösungen."
Ursprünglich hatte der Stab von Nawalny landesweite Demonstrationen geplant, nachdem mindestens 500.000 Menschen ihre Teilnahme angekündigt hatten. Nun will man diesen Zeitpunkt nicht mehr abwarten. Bis Montagmittag haben sich mehr als 463.000 Russen zu der Protestaktion registriert.
"Haben Sie jemals mit eigenen Augen gesehen, wie eine Person ermordet wird?", fragt Leonid Wolkow in dem Aufruf zu den Protesten rhetorisch und gibt selbst die Antwort: "Ja, Sie haben es gesehen. Sie sehen es jetzt gerade." Nichts werde die Tatsache ändern, dass Nawalny ermordet wird. "Auf beängstigende Weise. Vor aller Augen."
Laut Julia Nawalnaja , der Ehefrau des erklärte Erzfeindes Putins, wiegt der 1,89 Meter große Kreml-Kritiker derzeit 76 Kilogramm – neun Kilogramm weniger als zu Beginn seines Hungerstreiks vor zwei Wochen und 17 Kilogramm weniger als vor seiner Verlegung ins Straflager in der Kleinstadt Pokrow im Februar. Mit dem Hungerstreik will der 44-Järige erreichen, dass ihm eine angemessene medizinische Versorgung gewährt wird. Im vergangenen Jahr überlebte er nur knapp eine Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok und klagte bei seiner Inhaftierung im vergangenen März über gravierende gesundheitliche Probleme.
USA drohen mit Konsequenzen im Fall des Todes von Alexej Nawalny
Nawalnys Gesundheitszustand hat auch international große Sorge ausgelöst. US-Sicherheitsberater Sullivan nannte am Sonntag zwar keine spezifischen Maßnahmen, die Washington im Fall von Nawalnys Tod ergreifen würde. "Aber wir haben klargemacht, dass es Konsequenzen geben wird, falls Nawalny stirbt", betonte er. US-Präsident Joe Biden zeigte sich besorgt über die Berichte und kritisierte die Bedingungen für den 44-Jährigen. Diese seien "völlig, völlig unfair und total unangemessen", antwortete er auf eine Frage von Journalisten zu Nawalny.
Der Grünen-Europapa-Abgeordnete Sergey Lagodinsky forderte die Bundesregierung und die EU auf, sich bei Putin für einen Transport Nawalnys in die EU einzusetzen. "Nawalny ist in unmittelbarer Lebensgefahr“, sagte er den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Ihm zu helfen ist unsere menschliche Pflicht."
Auch Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian zeigte sich im Sender France 3 "äußerst besorgt" über den Gesundheitszustand des Kreml-Kritikers und schloss auch neue Sanktionen gegen Russland nicht aus. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte am Montag, die EU mache Russland "für die Gesundheitssituation von Herrn Nawalny verantwortlich".
Kreml weiter auf Kriegspfad
Dessen ungeachtet geht der Kreml weiter gegen den Anti-Korruptions-Fond Nawalnys vor. Die russische Staatsanwaltschaft forderte ein Gericht in Moskau auf, die Organisation und deren Regionalbüros als "extremistisch" einzustufen – was einem Verbot gleichkäme.