Der Quadratmeterpreis in Europas Finanzhauptstadt London klettert schier unaufhaltsam in astronomische Höhen. Großgrundbesitzern gehen die Superlative für ihre Anwesen aus. Das Einkommen des britischen Monarchen hat sich im vergangenen Jahrzehnt mehr als verdoppelt.
Das ist die eine, die auf Hochglanz polierte Seite des Vereinigten Königreichs. Die andere macht weit weniger her. Da wäre ein gänzlich kaputtgespartes Sozialsystem, das buchstäblich jeden Tag Menschenleben kostet. Da wären die Abertausenden Menschen, die in völliger Perspektivlosigkeit in verkommenden Vororten hausen, gefangen in der Unterschicht.
Und dann wären da die Millionen Familien, die vor leeren Tellern sitzen.
Millionen Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen
Laut einer Untersuchung der "Food Foundation" waren 15 Prozent der britischen Haushalte im Januar von Ernährungsunsicherheit betroffen – konnten also nicht jeden Tag für ausreichend Essen sorgen. Das entspricht rund acht Millionen Erwachsenen und drei Millionen Kindern.
Die Forscher fragten rund 6000 Menschen, ob sie Mahlzeiten zuletzt verkleinerten oder ganz aussetzen, mangels Geld hungrig waren oder mindestens einen Tag lang nichts aßen. Stimmten die Befragten dem zu, wurden sie in diese Kategorie gezählt. Dem "Guardian" zufolge sehen Experten in den alarmierenden Ergebnissen einen "gesundheitlichen Notfall" und warnen vor Krankheiten, die durch Unterernährung hervorgerufen werden, wie der Knochenerkrankung Rachitis.
Laut einer Analyse des öffentlichen Statistikamts (ONS) gab zwischen Oktober und dem Jahresende 2023 einer von 25 Briten an, ihm seien die Lebensmittel ausgegangen und er könne es sich nicht leisten, neue zu kaufen. Der "Food Foundation" zufolge sind fast die Hälfte aller Haushalte von Hunger betroffen, die Geld über den sogenannten "universal credit" (eine allgemeine Sozialhilfe) beziehen.
Die Preise für Lebensmittel sind durch Faktoren wie den Brexit oder die Inflation deutlich angestiegen. Kostete ein durchschnittlicher Wocheneinkauf für einen Single-Mann im April 2021 rund 44 Pfund, kostet derselbe Einkauf jetzt 55 Pfund.
Gesundes Essen wird in Großbritannien immer teurer
Doch geht es nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität am Esstisch. Arm isst anders als reich. Einkommensschwache Briten sparen vor allem an Gesundem. Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Fisch sind für die unteren Schichten immer weniger erschwinglich. 60 Prozent der Haushalte, die im Januar beim Essen sparen mussten, machten bei Obst und Gemüse Abstriche. Kein Wunder, ist gesunde Nahrung laut der "Food Foundation" pro Kalorie mittlerweile umgerechnet doppelt so teuer. Das ärmste Fünftel der Bevölkerung müsste zuletzt rund die Hälfte seines Einkommens ausgeben, um die von der Regierung empfohlene Menge gesunder Lebensmittel auf den Teller zu bekommen.
"Den Eltern bleibt oft nichts anderes übrig, als billigere, stark verarbeitete Lebensmittel zu kaufen, die viel Salz und Zucker enthalten", erklärt die Kinderärztin Camilla Kingdon, Präsidentin des Royal College of Paediatrics and Child Health, dem "Independent".
Die Konsequenz: Fettleibigkeit, Diabetes Typ 2 und Zahnverfall sind auf dem Vormarsch. Das wiederum belastet das ohnehin marode britische Gesundheitssystem. Der NHS (National Health Service) musste im politischen Durcheinander der vergangenen Jahre immer wieder als Reserve für die kränkelnde Wirtschaft herhalten – mit sichtbaren Folgen. Vor rund einem Jahr machten Schlagzeilen die Runde, wonach jeden Tag zwischen 300 und 500 Menschen sterben, weil sie in medizinischen Notfällen nicht rechtzeitig versorgt werden konnten (der stern berichtete).
Marodes Sozialsystem als Wahlkampfthema
Voraussichtlich in diesem Jahr stehen Wahlen an, der NHS dürfte Dreh- und Angelpunkt des Wahlkampfes werden. Eine Besserung scheint bis dahin nicht in Sicht, im Gegenteil. Berichten zufolge könnte die Regierung in London ab April die Finanzierung des Haushaltsunterstützungsfonds einstellen – ein 900 Millionen Pfund schwerer Notfallgroschen, mit dem die Gemeinden auch Lebensmittelgutscheine für Familien mit Kindern und kostenloses Schulessen stellen. Der Grund: Das Geld fehlt.
Quellen: "Food Foundation"; The Guardian"; "The Independent"