Mit der unerwartetet brutalen Räumung zweier Protestlager der islamistischen Muslimbruderschaft hat die Krise in Ägypten einen neuen blutigen Höhepunkt erreicht. Bei Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des vom Militär gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi sind nach offiziellen Angaben 278 Menschen getötet und mehr als 1400 verletzt worden. Unter den Toten seien sowohl Polizisten als auch Zivilisten, hieß es. Die Regierung rief für einen Monat den Notstand aus, nachdem sich die Unruhen von Kairo auf andere Landesteile ausweiteten. In den großen Städten wurde zudem eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Vizepräsident Mohamed ElBaradei reichte am Mittwoch aus Protest gegen die Gewalt seinen Rücktritt ein.
Am Abend hatte die Übergangsregierung die Opferzahlen noch einmal deutlich nach oben korrigiert. Die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi hatten dagegen schon am Nachmittag von mehr als 2200 Toten und 10.000 Verletzten gesprochen.
Die islamistischen Muslimbrüder hatten ihre Anhänger zu Protesten aufgerufen, nachdem das Militär die beiden Lager der Demonstranten in der Hauptstadt erstürmt hatte. Armee und Polizei rückten im Morgengrauen mit einem Großaufgebot an. Sie setzten Tränengas ein, es wurde scharf geschossen. Planierraupen walzten unzählige Zelte auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz im Nordosten der Hauptstadt nieder, wo Tausende Demonstranten seit sechs Wochen ausharrten und mit Mahnwachen und Sitzblockaden die Wiedereinsetzung Mursis gefordert hatten.
Camp geräumt, neuer Aufruf zum Widerstand
Die Einsatzkräfte rückten mit Panzerwagen nahezu zeitgleich beim Rabaa-Lager und dem kleineren Camp am Nilufer unweit der Universität Kairo an. Tränengaspatronen seien wie Regen niedergegangen, sagte der 20-jährige Student Chaled Ahmed. "Das ist eine Belagerung, ein Militärangriff auf ein Protestlager von Zivilisten." Das Fernsehen zeigte Bilder von Sicherheitskräften, die von Dächern aus das Feuer eröffneten. Der am Kopf blutende 39-jährige Saleh Abdulasis sagte, Polizisten und Soldaten hätten selbst dann noch geschossen, "als wir sie anbettelten aufzuhören."
Binnen weniger Stunden griff die Gewalt auf zahlreiche andere Städte und Regionen über. Betroffen waren Suez, Minja, Assiut und Alexandria sowie die südlich von Kairo gelegene Provinz Fajum. In der Leichenhalle eines Kairoer Krankenhauses zählte ein Reuters-Reporter 29 Tote, darunter einen zwölfjährigen Jungen. Die meisten starben an Schussverletzungen am Kopf. Der britische Fernsehsender Sky News teilte mit, einer seiner Kameramänner sei in Kairo erschossen worden.
Das ägyptische Staatsfernsehen berichtete, im Westen Kairos seien vier Polizisten in einer Wache von Mursi-Anhängern erschossen worden. Die Demonstranten setzten Regierungsgebäude in Brand und griffen Kirchen an. In Fernsehbildern war zu sehen, wie Mursi-Anhänger hinter Sandsackbarrikaden verborgen mit halbautomatischen Waffen auf Soldaten feuerten.
Erst am Abend gab es Berichte, dass Hunderte von Mursi-Anhängern das Protestlager der Islamisten vor der Rabea-al-Adawija-Moschee in Kairo verlassen. Das beobachtete ein DPA-Reporter im Stadtteil Nasr-City. Polizeibeamte sagten, fast alle Teilnehmer der Protestaktion, die bis zuletzt Widerstand geleistet hatten, seien inzwischen abgezogen. Unter den abziehenden Demonstranten waren auch einige verschleierte Frauen. Trotzdem riefen Unterstützer des gestürzten Präsidenten dazu auf, weiter Widerstand zu leisten.
In der Nacht zu Donnerstag blieb es - auch wegen der Ausgangssperre - ruhig. Fernsehbilder zeigten gespenstisch anmutende Szenen: Während auf den Straßen Kairos fast ausschließlich Militärfahrzeuge unterwegs waren, sorgten brennende Autowracks für eine schaurige Kulisse. Das Militär hatte am Abend gewarnt, es werde die Ausgangssperre "mit unnachgiebiger Härte" umsetzen, wie die Zeitung "Al-Ahram" auf ihrer Online-Seite berichtete.
Auf Reisewarnungen achten
Vizepräsident ElBaradei schrieb zuvor in einem Brief an Übergangspräsident Adli Mansur, es habe gewaltlose Alternativen gegeben, um die politische Krise im Land zu beenden. "Es ist für mich schwierig geworden, weiter die Verantwortung für Entscheidungen zu treffen, mit denen ich nicht übereinstimme, und deren Auswirkungen mir Angst machen", erklärte er. "Ich kann nicht die Verantwortung für einen einzigen Tropfen Blut übernehmen."
In der Notstandverfügung forderte der Präsident die Armee auf, der Polizei bei der Wiederherstellung der Ordnung zu helfen. Menschenrechtlern zufolge hätten damit jetzt auch Soldaten das Recht, Personen festzunehmen. Für die Zeit zwischen 21 Uhr (zunächst 19 Uhr) und 6 Uhr verhängte die Regierung eine Ausgangssperre für Kairo und andere große Städte - voraussichtlichen ebenfalls für einen Monat. Insgesamt seien elf der 27 Provinzen des Landes betroffen (neben Kairo Alexandria, Giza, Assiut, Al-Buhaira, Beni Sueif, die Provinz Süd-Sinai mit den Touristenorten Scharm el Scheich und Nuwaiba, Nord-Sinai, Suez, Al-Minia, Ismailija und Sohag). Wer die Ausgangssperre verletze, werde mit Gefängnis bestraft, hieß es.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) berief einen Krisenstab des Auswärtigen Amtes ein. "Wir bewerten natürlich die Entwicklungen in Ägypten sehr genau auch unter dem Gesichtspunkt, was das für unsere Staatsangehörigen bedeutet, die in dem Lande sich befinden", sagte Westerwelle am Mittwoch in Tunis. Er appellierte erneut an alle Deutschen in Ägypten, die Reisehinweise des Auswärtigen Amts im Internet zu beachten.
EU ruft zur Mäßigung auf
Internationale Vermittlungsbemühungen waren gescheitert. Der Anfang Juli gestürzte Mursi kam im Juni 2012 als erster frei gewählter Präsident Ägyptens an die Macht. Gegner warfen ihm vor, gemeinsam mit den Muslimbrüdern eine Islamisierung des Landes voranzutreiben. Sie sahen die Ideale der Revolution von 2011 verraten, die zum Sturz des jahrzehntelangen Machthabers Husni Mubaraks geführt hatte.
Die EU und Deutschland mahnten zur Zurückhaltung. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderte sofortige Schritte der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, um "das Massaker zu stoppen". UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erklärte, Gewalt und Anstiftung zur Gewalt seien - egal von welcher Seite - nicht die Antworten auf die Herausforderungen, vor denen Ägypten stehe.