Jetzt ist es offiziell: Mit den formellen Beitrittsanträgen aus Finnland und Schweden darf die Nato auf Familienzuwachs hoffen. Wie lange es dauert, bis Finnland und Schweden wirklich Mitglieder sind, ist unklar. Es müssen schließlich alle 30 Bündnispartner zustimmen – und bislang stellt sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan quer. Dass Ankara damit Moskau einen Gefallen tun will, ist aber fraglich. Wahrscheinlich will sich Erdogan seine Zustimmung in Form von Waffendeals mit den USA entlohnen lassen. Am Ende dürfte dem Nato-Zuwachs aber nichts im Wege stehen.
In Moskau, so wirkt es zumindest, ist die anfängliche Wut über die Erweiterungspläne einem halblauten Schmollen gewichen: Wo im Kreml noch vor wenigen Tagen von einem "schwerwiegenden Fehler mit weitreichenden Folgen" (Vize-Außenminister Sergej Rjabkow) gesprochen oder gar mit einer "entsprechenden symmetrischen Antwort" (Kreml-Sprecher Dmitri Peskow) gedroht wurde, ist es nun erstaunlich ruhig geworden. Am Montag beschränkte sich Präsident Putin darauf, auf eine "Ausweitung der militärischen Infrastruktur" der Nato um Finnland und Schweden "zweifellos" reagieren zu wollen. Eine "direkte Bedrohung" seien die nordischen Avancen gegenüber der Nato jedoch nicht.
Tatsächlich aber dürfte es in Moskau gewaltig rumoren. Denn der Beitritt der beiden nordeuropäischen Staaten zum westlichen Militärbündnis (mitsamt ihrer gut ausgerüsteten Streitkräfte) ist für den Kreml ein sicherheitspolitischer Schlag ins Gesicht.
Wie reagiert Russland auf den neu erstarkten, ungewohnt geeinten Westen? Und was könnte die Erweiterung der Nato für das Regime bedeuten? Ein Erklärungsversuch.
Dem Kreml wären größtenteils die Hände gebunden
Sollte es – und davon ist auszugehen – zur Nato-Erweiterung im Hohen Norden kommen, bliebe dem Kreml nichts anderes übrig, als wie auch immer geartete Stärke zu demonstrieren. Dass das russische Energieunternehmen RAO Nordic Oy am Wochenende die Stromlieferungen nach Finnland gestoppt hat, könnte nur ein Vorgeschmack sein. Dunkler wird es dadurch nicht: russische Elektrizität macht nur zehn Prozent des finnischen Verbrauchs aus. Viel gravierender wäre es, sollte sich Moskau dazu entschließen, dem mit der Nato liebäugelnden Nachbarn den Gashahn abzudrehen. Das Land deckt 94 Prozent seines gesamten Gasverbrauchs durch russische Importe.
Ein Beitritt der beiden nordeuropäischen Staaten "verändert das Sicherheitsumfeld für die gesamte Ostsee und die Arktis", erklärt Generalleutnant im Ruhestand Ben Hodges, ehemaliger kommandierender General der US-Armee in Europa, dem US-Nachrichtensender CNBC. Was Finnland und Schweden als Schutzmaßnahme sehen, versteht der Kreml als massive Bedrohung. Der fühlt sich umzingelter denn je: Schließlich würde aus einer Hunderte Kilometer langen, neutralen Grenze eine Tausende Kilometer lange potentielle Angriffslinie.
Dass Moskau mit einer massiven Erhöhung seiner Truppenstärke an der finnischen Grenze reagiert, ist zwar grundsätzlich denkbar, könnte letztlich jedoch eine weitere halb gare Drohung sein. Sollte der Beitritt von Finnland so schnell gehen, wie von der Mehrheit der Nato-Mitglieder forciert, müsste Russland in seiner eigenen Logik massiv im Nordwesten aufstocken, um sich im Fall aller Fälle gegen den Westen verteidigen zu können. Das wiederum kann sich Moskau nicht erlauben, weil inzwischen fast das gesamte Militär in der Ukraine zum Einsatz kommt.
Auch, dass Russland als Vergeltung Atomwaffen im Baltikum stationiert, sei "vor allem Prahlerei", meint die US-Zeitung "Politico". Denn tatsächlich hatte der Kreml schon lange vor dem Ukraine-Krieg Nuklearwaffen an der Ostsee, in Kaliningrad, positioniert. Auf der Halbinsel Kola im Landesnorden befände sich sogar eine der größten Atomwaffenkonzentrationen der Welt. Experten halten es für wahrscheinlicher, so schreibt das Nachrichtenportal "Vox", dass Moskau im Norden eine hybride Kriegsführung einsetzen könnte, wie etwa Desinformationskampagnen oder Cyberangriffe. Auch könnte Russland zukünftig auf weitere Provokationen setzen: Zum Beispiel, indem es mit der Verletzung des Nato-Luftraums verstärkt gegen den West stichelt. Laut einem Nato-Bericht kamen die westlichen Luftstreitkräfte in Europa bereits 2020 mehr als 400-mal zum Einsatz, um nicht identifizierte Flugzeuge abzufangen – in neun von zehn Fällen hätten die sich am Ende als russische Militärmaschinen herausgestellt.
Moskau hat die Nato-Erweiterung selbst zu verantworten
Welche konkreten Maßnahmen der Kreml gegen die "Einkesselung" durch den Westen im Norden ergreift, hängt nicht zuletzt davon ab, wie lange sich der Nato-Beitrittsprozess hinzieht und, wie sich bis dahin der Kriegsverlauf in der Ukraine entwickelt.
Fest steht allerdings: Moskau hat mit seinem Angriffskrieg genau das provoziert, was es mit der Invasion angeblich im Keim ersticken wollte: nicht nur eine Erweiterung, sondern auch ein stückweit eine Wiederbelebung der Nato. Das Militärbündnis war ursprünglich als Bollwerk des Westens gegen die UdSSR gegründet worden. Nach deren Fall und damit dem Ende des Kalten Krieges, verlor die Allianz an Bedeutung. Jetzt besinnt sich die Nato wieder auf ihren Grundzweck. Nur geht es dabei diesmal weniger um einen Kampf der Ideologien, sondern um den Schutz vor einem imperialistischen Aggressor. Wem dabei welche Rolle zukommt, das hängt natürlich vom Blickwinkel ab.
Am Ende sind die Beitrittswünsche aus dem Norden in erster Linie ein Ausdruck der Angst: eine Angst vor der Unberechenbarkeit des Putin-Regimes, eine Angst, der man hätte entgegenwirken können. Obwohl US-Geheimdienste den russischen Überfall auf das Nachbarland bereits im Winter vergangenen Jahres vorhergesagt hatten, gab sich der Westen überrascht, als Putin Ende Februar wirklich ernst machte. Zwar ist ein Angriff auf Finnland und Schweden, die seit Jahren enge Partner der Nato sind, unwahrscheinlich. Nun ist Putin jedoch, das haben die vergangenen Monate gezeigt, alles zuzutrauen.
Aus westlicher Sicht driftet man beim Blick zurück deswegen unweigerlich in die endlosen Weiten des Konjunktivs ab. Aus finnischer und schwedischer Sicht ist dabei hingegen eine Frage durchaus interessant: Hätte Putin die politischen und staatlichen Grenzen auch überschritten, wäre die Ukraine ein Nato-Mitglied gewesen? Wie "Politico" treffend formuliert, war es "jedoch nicht der Wunsch Kiews, der Nato beizutreten, der Russland dazu veranlasste, gegen die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Vielmehr war es die Abwesenheit der Nato in der Ukraine, die den Einmarsch ermöglichte".
Ein Gedanke dürfte im Kreml aber für kollektive Gänsehaut sorgen: Die nordischen Avancen könnten Vorbote für eine weitere Öffnung der Militärallianz sein. Denn die Aufnahmebereitschaft unter den Mitgliedstaaten ist immerhin ein erstes Anzeichen, dass die Nato in Zukunft noch weiter wächst – und damit zum sicherheitspolitischen Alptraum für den Kreml wird. "Für die Nato wird es keine geschlossenen Türen geben", meint auch die Nordeuropa-Direktorin des der US-Denkfabrik "Atlantic Council", Anna Weislander, gegenüber CNBC.
Spiel mit dem Feuer
Moskaus Drohgebärden sind Ausdruck von Verzweiflung. Denn der als Blitzsieg eingeplante Überfall auf die Ukraine hat sich als totales Fiasko entpuppt: erst wirtschaftlich, dann militärisch und mit dem geplanten Familienzuwachs der Nato endgültig auch sicherheitspolitisch.
Schließlich hatte Putin neben der absurden Behauptung, die Ukraine entnazifizieren zu wollen, eine drohende Einengung Russlands durch den Westen als Rechtfertigung für die "Militärischen Spezialoperationen" angegeben. Dass Ziel Nummer Zwei inzwischen passé ist, dürfte es dem Kreml-Chef im Fall eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands mit der Ukraine schwer machen, die Invasion im eigenen Land als Sieg zu verkaufen – und den braucht er, um politisch zu überleben.
Ganz zahnlos ist das Kreml-Knurren deswegen aber nicht. Auch wenn sich die jahrelang verfolgte Strategie des Westens, Russland im Zaum zu halten, indem man auf eine Osterweiterung der Nato verzichtet, als grundlegend falsch erwiesen hat: Das Regime Putin dadurch zu provozieren, ist buchstäblich ein Spiel mit dem Feuer. In diesem Fall jedoch eines, das nötig ist.