Mariupol steht vor dem Fall, Charkiw womöglich vor der Rückeroberung, um Sjewjerodonezk werden schwere Gefechte ausgetragen: Auch am 84. Tag des russischen Feldzugs überschlagen sich die Ereignisse. Geradezu stündlich ändert sich die Geschwindigkeit an der Front, stellen sich neue Fragen um das russische Kriegstreiben in der Ukraine und die (eigentlichen) Absichten von Präsident Wladimir Putin.
"Tatsächlich kann heute niemand sagen, wie lange dieser Krieg dauern wird", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits am Samstag. "Aber wir tun alles, um unser Land schnell zu befreien. Das ist unsere Priorität – jeden Tag daran zu arbeiten, den Krieg zu verkürzen."
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Denn von einem baldigen Kriegsende geht in Kiew derzeit niemand aus. Viel mehr sei nun der Beginn der "dritten Phase" des russischen Angriffskrieges zu beobachten, die Vorbereitungen auf "eine längerfristige Militäroperation", heißt es aus der ukrainischen Führung:
- "Phase eins" sei der Versuch gewesen, die Ukraine "in wenigen Tagen" zu überrollen, erklärte Viktor Andrusyw am Samstag, Berater im ukrainischen Innenministerium.
- In der zweiten Phase sollten wiederum die ukrainischen Streitkräfte in mehreren Kesseln eingekreist und zerschlagen werden. "Und auch das haben sie nicht geschafft."
- In der neuen "dritten Phase" bereiteten die russischen Militärs die Verteidigung der bisher erreichten Geländegewinne vor. "Das zeigt, dass sie einen langen Krieg daraus machen wollen", so Andrusyw.
Aus Sicht der Ukraine graben sich die russischen Streitkräfte im Süden und Osten des Landes ein. "Russland bereitetet sich auf eine längerfristige Militäroperation vor", sagte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am Dienstag. Die russischen Truppen würden derzeit ihre Positionen in den von ihnen besetzten Gebieten in den Regionen Saporischschja und Cherson verstärken, um "bei Bedarf in den Defensivmodus zu wechseln".
Für Russland läuft es nicht nach Plan
Zuletzt hatte Russland mehrere Rückschläge zu verkraften. Die Vorstöße im Donbass sind weitestgehend stecken geblieben, der Vormarsch im Osten des Landes wurde nach Angaben der ukrainischen Truppen abgebremst, die Invasoren in der Region Charkiw im Nordosten sogar Richtung russischer Grenze verdrängt worden.
"Man sieht das implizite Eingeständnis der russischen Streitkräfte, dass sie zu schlecht sind, um alle Positionen zu halten", sagte der Militärexperte Carlo Masala im stern-Podcast "Ukraine – die Lage". Nach Einschätzung des Politikprofessors von der Bundeswehruniversität München muss die russische Führung ihre Kriegsziele dauernd anpassen, weil die Streitkräfte sie nicht erreichen könnten. Die russischen Truppen "entsprechen bei weitem nicht den Standards, die wir für russische Streitkräfte angenommen haben", so Masala. Aufgrund der Probleme konzentriere sich die Armee nun auf die Ostukraine und gebe andere Positionen auf.
Schon jetzt verzeichnet Russland offenbar einen hohen Aderlass bei Material und Militär, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach sogar von "beeindruckenden Verlusten" der russischen Armee. Dies stehe unter dem Vorbehalt, dass die entsprechenden Angaben stimmten, sagte Borrell nach einem Treffen der EU-Verteidigungsminister in Brüssel am Montag. Doch: "Wenn es stimmt, dass Russland seit Beginn des Krieges 15 Prozent seiner Truppen verloren hat, ist das ein Weltrekord bei Verlusten für eine Armee bei einem Einmarsch in ein Land." Er würde es nicht wagen, eine Hypothese darüber aufzustellen, wie lange Russland solche Verluste verkraften kann.
Die aktuellen Entwicklungen könnten Präsident Putin persönlich auf den Plan gerufen haben. Laut westlichen Militärquellen treffe Putin strategische und taktische Entscheidungen "auf der Ebene eines Oberst oder Brigadiers", berichtete der britische "Guardian" am Dienstag. Demnach sei der russische Präsident in die Truppenbewegungen im Donbass involviert, wo die Invasoren in der vergangenen Woche eine herbe Niederlage erlitten, als sie mehrfach versuchten, einen strategisch wichtigen Fluss im Osten der Ukraine zu überqueren.
Die Rückschläge und zunehmenden Ressourcenprobleme münden offenbar in einer gewissen Ratlosigkeit Russlands. So setzen die Streitkräfte nach britischen Erkenntnissen zunehmend auf "wahllosen Artilleriebeschuss". Demnach habe Russland nur begrenzte Möglichkeiten zur Erfassung von Zielen und scheue zudem das Risiko, Kampfflugzeuge über ukrainisch kontrolliertem Gebiet einzusetzen, wie das Verteidigungsministerium in London am Dienstag mitteilte. "In den kommenden Wochen wird sich Russland wahrscheinlich weiterhin stark auf massive Artillerieangriffe verlassen, wenn es seine Offensive im Donbass wieder in Schwung zu bringen versucht."
Darüber hinaus habe die russische Armee erhebliche Probleme beim Nachschub und der Truppenverstärkung. So müsse Russland viele Hilfstruppen einsetzen, um den ukrainischen Widerstand zu brechen, darunter Tausende Kämpfer aus der autonomen Teilrepublik Tschetschenien, teilte das britische Verteidigungsministerium Mittwoch mit. "Der Kampfeinsatz so unterschiedlichen Personals zeigt die erheblichen Ressourcenprobleme Russlands in der Ukraine und trägt wahrscheinlich zu einem uneinheitlichen Kommando bei, das die russischen Operationen weiterhin behindert."
Eine optimistisch klingende Prognose
Was folgt daraus? Könnte Präsident Putin daher doch noch eine Generalmobilmachung befehligen, um frische Truppen an die Front zu schicken? Der Schritt wurde schon für den 9. Mai erwartet, den "Tag des Sieges" in Russland, blieb letztlich aber aus. Oder zieht sich Russland weiter zurück?
Entsprechende Spekulationen befeuerte nun ein russischer Militärexperte, der im Staatsfernsehen – also womöglich mit Genehmigung des Kreml – mit einer ungewöhnlich pessimistischen Bewertung des Krieges überraschte. Die ukrainischen Streitkräfte seien weit von einem Zerfall entfernt, sagte Michael Chodarjonok am Montag in einer Talkshow, während Russland in der Welt durch den Krieg isoliert sei. Moskau müsse einen Ausweg aus der Lage finden, "dass die ganze Welt gegen uns ist", forderte der ehemalige Generalstabsoffizier in der Sendung.

Von einem baldigen Ende der Kampfhandlungen geht die ukrainische Führung dennoch nicht aus. Die Friedensverhandlungen mit Russland seien vorerst ausgesetzt, teilten Kiew und Moskau am Dienstag mit. Die Ukraine wirft Russland vor, keine konkreten Vorschläge zur Beilegung der Kriegshandlungen zu machen.
Unterdessen bekräftigte der ukrainische Verteidigungsminister, dass Moskau "einen Landkorridor zwischen Russland und der Krim" schaffen und "den gesamten Süden der Ukraine" besetzen will. Russland hatte die Krim-Halbinsel 2014 annektiert. Derzeit konzentrierten sich die Hauptbemühungen des Kremls darauf, die ukrainischen Streitkräfte in den Regionen Donezk und Luhansk im Osten des Landes "einzukreisen und zu zerstören", fuhr er fort. Dort setzten sie ihre Offensiven "entlang der gesamten Kontaktlinie" fort.
Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes dagegen sagte in einer überaus optimistisch klingenden Prognose ein Ende des Kriegs mit einer russischen Niederlage bis Jahresende voraus. Spätestens Mitte August komme es zu einer Wende an den Fronten, sagte Generalmajor Kyrylo Budanow dem britischen Sender Sky News am Samstag. "Der Wendepunkt kommt in der zweiten Augusthälfte." Bis zum Jahresende werde die Ukraine wieder die Kontrolle über alle ihre Gebiete zurückerlangen, auch über die Halbinsel Krim.
Der Geheimdienstler sprach den russischen Streitkräften die oft nachgesagte Stärke ab. "Das ist ein Mythos." Die russische Armee sei "nur eine Horde von Menschen mit Waffen".
Quellen: "The Guardian", Lagebericht des britischen Verteidigungsministeriums (Dienstag / Mittwoch), "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Der Tagesspiegel", "Frankfurter Rundschau", "Tagesschau.de", n-tv, "Der Spiegel", "Merkur", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP