"Die Situation bleibt sehr schwierig", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über die Lage in der Millionenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Wieder hat die russische Armee Ziele in vielen Teilen der Ukraine bombardiert, wieder galten die Luftschläge vor allem der Energie-Infrastruktur des Landes.
Und wieder fiel vielerorts der Strom aus. In der Hauptstadt Kiew zum Beispiel, aber auch in den Regionen Lwiw, Winnyzja, Ternopil, Tschernowyz, Transkarpatien, Sumy und Dnipropetrowsk. Und in Odessa, jenem "Paris des Ostens", wie die stolzen Bewohnerinnen und Bewohner die Stadt mit ihrer reichen Kultur und ihrer prächtigen Architektur nennen.
Odessa blieb lange von größeren Angriffen verschont
Immer wieder wurde auch Odessa in den vergangen Kriegsmonaten von Russland angegriffen, doch die Schäden und Opferzahlen blieben meist geringer als in anderen Teilen des Landes. Doch nun, seit den vermehrten Attacken auf die Stadt seit Beginn der vergangenen Woche, ändert sich das Leben der Menschen dort. Es wird buchstäblich finster.
Das Stromnetz in der Region wurde stark beschädigt, meldet die Staatsagentur Unian. Der Versorger DTEK hat mehr als 200 Teams entsandt, die die Stromversorgung wiederherstellen sollen, doch auch sie werden damit lange Zeit beschäftigt sein. "Nach vorläufigen Prognosen wird die Wiederherstellung der Energieanlagen in der Region Odessa viel länger dauern als in den vergangenen Zeiten nach feindlichem Beschuss", teilt das Unternehmen mit. "Es geht nicht um Tage oder Wochen, vielmehr werden zwei bis drei Monate nicht ausgeschlossen."
Rund eine Million Menschen lebten bis zum russischen Überfall auf die Ukraine in der Stadt, mehr als doppelt so viele in der Region. Wie viele es jetzt sind, weiß niemand so genau. Die ukrainische Regierung geht von rund 1,5 Millionen Frauen, Kindern und Männern aus, die jetzt im Dunkeln sitzen.
Der Winter hat noch nicht richtig begonnen
Die Temperaturen im Süden der Ukraine liegen zurzeit knapp über dem Gefrierpunkt, nachts auch zeitweise darunter. Für die kommenden Tage werden Schneefälle vorhergesagt. Und der Winter beginnt erst. Für die Menschen bedeutet der Stromausfall ein Leben in Kälte und Dunkelheit – und nicht nur das: Wie die Wärmeversorgung kann auch die Wasserversorgung nur laufen, wenn Pumpen mit Strom versorgt werden, gleiches gilt für die Abwasserentsorgung. Hinzu kommt: Gefrorenes Wasser kann die Leitungen bersten lassen. Auch Handys und das Internet funktionieren ohne Strom nicht. Angriffe auf die Energieversorgung lösen einen Domino-Effekt aus. Es ist die russische Taktik, die Bevölkerung zu zermürben.
"Wir müssen uns jetzt daran erinnern, dass wir Ukrainer sind. Wir sind unzerbrechlich und unbesiegbar", appelliert DTEK an den Durchhaltewillen der Menschen in Odessa und Umgebung. Man bemühe sich, kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser mit Strom zu versorgen.
Wie groß die Leidensfähigkeit der Bevölkerung ist, ist kaum vorauszusagen. Nach Möglichkeit sollen die Menschen die Stadt vorübergehend verlassen, so der Stromversorger.
Alltag in der Dunkelheit
Die, die bleiben, arrangieren sich offenbar (noch) mit der Situation. Fotos internationaler Presseagenturen aus den vergangenen Tagen zeigen einen nächtlichen Alltag in der Dunkelheit. Vollbesetzte Linienbusse, die Fenster beschlagen, drehen ihre Runden durch die Innenstadt. Menschen gehen durch die Finsternis, geleitet nur vom Lichtkegel ihrer Taschenlampe. In völliger Dunkelheit sorgen nur die Scheinwerfer und Rücklichter der Autos für etwas Orientierung. Und nur in wenigen Geschäften brennt noch Licht. Glücklich ist der, der ein Notstromaggregat sein Eigen nennt.
Am Tag, nachdem die Dunkelheit wieder einmal über Odessa hineinbrach, hält ein Fotograf eine fast bizarr wirkende Alltagsszene fest: Menschen kommen am Ufer des Schwarzen Meeres zusammen, um sich anzuschauen, wie das aufgepeitschte Wasser an die Mauern der Strandpromenade schlägt. Und in wenigen Stunden wird es wieder finster.
Die "Perle am Schwarzen Meer" – noch so eine Bezeichnung für die Millionenstadt – ist auch der mit Abstand wichtigste Hafen für die Ukraine. Aber ein Hafen ohne Strom ist auch nur eine weitgehend nutzlose Ansammlung von Kaimauern und Containerbrücken. Der Betrieb wurde nach den russischen Angriffen vorübergehend eingestellt. Erst am Montagmorgen gab es die Meldung des ukrainischen Infrastrukturministeriums: Der Betrieb läuft wieder. So weit es eben geht. Insbesondere für Getreideexporteure eine gute Nachricht.
"Licht wird Dunkelheit überwinden"
Die ukrainische Regierung hat im gesamten Land rund 4000 Wärmestuben eingerichtet, die die Bevölkerung mit Strom, Wasser, Erster Hilfe, Wärme und Internet versorgen sollen. "Unbesiegbarkeitszentren" nennt Präsident Selenskyj diese Anlaufpunkte in Schulen, Rathäusern oder schlichten Zelten. Allein im Stadtgebiet von Odessa verzeichnet die Karte der Regierung knapp 100 dieser Punkte, hinzu kommen noch einmal so viele "verantwortungsvolle Geschäfte", die den Menschen aus der Nachbarschaft Strom anbieten, zum Aufladen der Handys beispielsweise, oder um sich einen Tee zu kochen. Das Licht der Solidarität in Odessa leuchtet noch.
Und auch an anderer Stelle gibt es einen leichten Hoffnungsschimmer. Den DTEK-Teams ist es nach eigenen Angaben gelungen, dass Energienetz in der Region einigermaßen zu stabilisieren. Rund 300.000 Menschen sollen inzwischen, zumindest zeitweise, wieder mit elektrischer Energie versorgt werden können. DTEK schreibt bei Telegram, wissend das viele Menschen in Odessa es nicht werden lesen können: "Das Licht wird definitiv die Dunkelheit überwinden!"
Quellen: Unian, DTEK, "Unbesiegbarkeitszentren", Nachrichtenagenturen DPA und AFP