Am Tag nach der Enthüllung folgte das politische Erdbeben in Wien. Österreichs konservativ-rechtpopulistische Regierung ist zerbrochen, Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) ist zurückgetreten, die FPÖ-Minister stehen vor ihrer Entlassung, das Land vor Neuwahlen. Was im heimlich gedrehten Skandal-Video zu sehen ist, wirkt wie aus einem schlechten Agenten-Thriller - und die Kommentatoren der Tageszeitungen beschwören den Schaden für den europäischen Rechtspopulismus. Eine Zeitung aus dem vom Einwanderungsgegner Viktor Orbán regierten Ungarn lenkt die Aufmerksamkeit auf "die Migrationsfreunde" als möglichen Urheber des Skandals - ohne Belege zu präsentieren.
Pressestimmen aus dem In- und Ausland zur Regierungskrise in Österreich:
Presse in Österreich
"Die Presse": "Auf zehn Jahre war das türkis-blaue Projekt angelegt. Nun sind es gerade einmal eineinhalb Jahre geworden. ÖVP und FPÖ haben dabei einen neuen Kurs eingeschlagen: in der Migrationspolitik, in der Bildungspolitik, in der Budgetpolitik. Nicht wirklich 'neoliberal', eher gemäßigt liberal-konservativ mit sozialem Antlitz. Man wollte ja die Wahl 2022 wieder gewinnen. Und nicht wie Wolfgang Schüssel 2006 verlieren. Nun kommt es anders als geplant. Aus dem für die EU-Wahl einkalkulierten Streit ist eine Woche vor der EU-Wahl dann doch Ernst geworden. Die zuvor so harmonisch wirkenden Koalitionspartner stehen sich nun feindselig gegenüber. So schnell kann es gehen. Es wird ein rauer Wahlkampf werden, der nun begonnen hat."
"Der Standard": "Sebastian Kurz hat sich geirrt. (Nicht nur er.) Und zwar gewaltig. Man kann dem Kanzler nicht einmal zugutehalten, er sei nicht gewarnt worden. Es gab ausreichend Hinweise, mit welch zwielichtiger Chaotentruppe er hier eine Koalition eingeht – und wohin das führen wird. Die Freiheitlichen sind in vielerlei Hinsicht unzuverlässig. Sie haben ein Problem mit ihren deutschnationalen Burschenschaftern und grenzen sich nicht ausreichend von der rechtsextremen Szene ab. Sie sind korruptionsanfällig und politisch, aber auch in ihrer Persönlichkeitsstruktur unberechenbar. Und sie haben keinerlei Scheu, das hinreichend zu belegen. Kurz hat alle Warnungen in den Wind geschlagen, und so steht er nach kaum eineinhalb Jahren türkis-blauer Regierungsarbeit da und ruft wieder einmal Neuwahlen aus."
"Kurier": "Auch wenn der Bundespräsident nun Stabilität einmahnt, spielt doch jede Partei bereits ihr Wahlkampfspiel. In dieser Situation kann man nur an die Staatsverantwortlichkeit der Parteien appellieren: Rachegefühle sollten kein politisches Motiv sein. Das Experiment einer blauen Regierungsbeteiligung neuerlich im Chaos enden zu sehen, ist ja für viele im In- und Ausland – auch für etliche Alt-ÖVPler – eine Genugtuung."
Deutsche Pressestimmen
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Kurz hat sich diese Situation nicht ausgesucht, die Affäre kam auch für ihn aus heiterem Himmel. Hätte er nach den Rücktritten Straches und dessen Ibiza-Kompagnons Gudenus die Koalition fortgesetzt, so hätte er sich auf Gedeih und Verderb an die FPÖ gekettet. Welche dann noch kommende Affäre hätte ihm einen glaubwürdigen Abgang ermöglicht? Und doch musste er damit rechnen, dass immer wieder etwas hochkommt: entweder weitere Häppchen aus den Ibiza-Daten, die inzwischen ohnehin schon gezielt gegen Kurz ausgespielt werden, oder Provokationen vom rechten Rand der FPÖ. Doch beliebt bei den bisherigen Oppositionsparteien SPÖ, Neos und Grünen ist Kurz nach der Zeit als Partner der Rechten auch durch das Ende dieses Bündnisses nicht geworden. Die Neuwahl ist für ihn eine Chance, mehr Stimmen für die ÖVP zu gewinnen."
"Kölner Stadt-Anzeiger": "Zu einfach und offensichtlich ist, was auf Ibiza geschah - und wie sehr es dem eigenen Anspruch der FPÖ widerspricht, die ja wie alle rechtspopulistischen Gruppierungen eine Saubermann-Partei sein will. Dass wir es unbestrittenermaßen mit einem Skandal zu tun haben, bedeutet wiederum nicht, dass wir nicht auf den weniger ausgeleuchteten Teil der Bühne schauen dürften, ja müssten. Denn es stellen sich da durchaus Fragen. Eine Frage ist, warum das Video eigentlich so lange nicht publik wurde - und am Ende deutsche Medien einen wesentlichen Anteil daran hatten, dass es dann doch veröffentlicht wurde. Letzte Antworten darauf sind noch nicht möglich. Es spricht aber viel dafür, dass jene, die Strache in die Falle lockten, Motive hatten, die nicht notwendigerweise die edelsten waren."
"Leipziger Volkszeitung": "Weit weniger problematisch, als ein derartiges Video unter Verschluss zu halten, ist es (...), es ans Licht der Welt zu bringen. Zwar wurde Strache gelinkt. Die Veröffentlichung versteht sich deshalb nicht von selbst. Aber sie ist das ebenso berechtigte wie zwangsläufige Ergebnis einer Güterabwägung, die aus der hervorgehobenen Stellung des FPÖ-Politikers und seinen korrupten Einlassungen resultiert - sowie aus der Tatsache, dass all das nicht veröffentlicht wurde, was letztlich nichts zur Sache tut, weil es dem Schutz der Persönlichkeitsrechte Straches unterliegt: Koks- und Frauengeschichten."
Europäische Presse
"Tages-Anzeiger" (Schweiz): Das eigentlich Schockierende an der Ibiza-Affäre ist nicht, dass Spitzenpolitiker keine Skrupel haben, ihr Land an den Meistbietenden zu verscherbeln - damit hätte man bei einem Typ wie Heinz-Christian Strache rechnen müssen. Wirklich schockierend ist vielmehr, dass es anscheinend nicht mehr braucht als eine attraktive Frau, dass sich zwei erwachsene Politiker wie liebestolle Gockel benehmen, die ein paarungsbereites Huhn sehen. (...) Dabei ist die sogenannte Venusfalle ein Spionageklassiker. Unvergessen ist die rothaarige Russin Anna Chapman, die sich in New York als Immobilienmaklerin ausgab, bevor sie 2010 als russische Agentin aufflog. Auch der israelische Geheimdienst Mossad setzt attraktive Frauen gern als Lockvögel ein. Denn angesichts einer 'schoafen' Frau werden Männer offensichtlich unzurechnungsfähig."
"Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz): "Angesichts der Vorwürfe, mit denen die Regierungsparteien ÖVP und FPÖ sich nun gegenseitig überziehen, wirkt die in den vergangenen anderthalb Jahren zelebrierte Harmonie noch künstlicher. Es ist das dramatische Ende eines nicht spannungsfreien, aber für beide Seiten zweckdienlichen Verhältnisses.(...) Doch es ist bei der dritten Regierungsbeteiligung schon das dritte Mal, dass es vorzeitig und dramatisch zum Bruch kommt. Das empfiehlt die FPÖ nicht als Koalitionspartnerin. Die Sozialdemokraten stellte bereits das Liebäugeln mit der FPÖ als Partnerin vor eine Zerreißprobe. Nun sehen sich jene Kräfte bestätigt, die ein solches Bündnis immer kategorisch ausschlossen."
"Pravo" (Tschechien): "Österreich ist ein normales Land geblieben, in dem Politiker, die sich daneben benehmen, zurücktreten. (...) Es ist gar nicht einmal so wichtig, ob sich Strache und andere in ähnlichen Fällen mit wirklichen Verbrechern, Hochstaplern oder Provokateuren getroffen haben. Entscheidend ist, die Motivation dieser Politiker zu verstehen, überhaupt an derart verdächtigen Verhandlungen teilzunehmen. Dahinter dürfte das Streben nach Macht zu sehen sein. Für dieses leuchtende Wahnbild sind einige bereit, sich wie ein Wilder aufzuführen. (...) Die Politiker hier wie dort sind sich darin ähnlich. Doch zumindest haben diejenigen in Österreich nicht die Absicht, die Regierung und ihre Partei mit ihren eigenen Problemen zu belasten. Davon könnte man in Tschechien nur träumen."
"Le Monde" (Frankreich): "Die Schockwellen dieses Skandals gehen weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Damit bestätigen sich die schlimmsten Vermutungen, die demokratische Regierungen in Europa über die Verbindungen der rechtsextremen Parteien zu den Machtstrukturen im Russland Wladimir Putins haben. Es zeugt von einer merkwürdigen Vorstellung von Patriotismus, wenn man anbietet, heimlich nationale Interessen an Vertreter eines Landes zu verkaufen, das Wahlen in der EU zu beeinflussen und zu manipulieren versucht. Mit seinem Rücktritt hat Strache die Lektionen aus den Enthüllungen gezogen. Seine brüskierten europäischen Verbündeten tun sich damit schwerer."
"El Mundo" (Spanien): "Die Ansetzung einer Neuwahl in Österreich nach dem Rücktritt von Vizekanzler Heinz-Christian Strache (...) ist eine Gelegenheit, die Ultrarechte loszuwerden. (...) Die Entscheidung von (Bundeskanzler) Sebastian Kurz ist aus mehreren Gründen richtig. Erstens wegen der unhaltbaren Situation, die sich aus dem inakzeptablen Verhalten seines Partners ergeben hat. Und zweitens wegen der Isolation Wiens von den internationalen Geheimdiensten infolge der Verbindungen der FPÖ zu Moskau. Sich von den Rechtsextremen in der österreichischen Exekutive zu befreien, wäre eine gute Nachricht für die Zukunft Europas."
"Nesawissimaja Gaseta" (Russland): "Die Entscheidung von (Bundeskanzler Sebastian) Kurz bedeutet nicht unbedingt, dass er sich in irgendeiner Form schuldig fühlt. Der österreichische Kanzler will sich einfach vor unkontrollierbarer Schädigung seines Rufes schützen und das Vertrauensproblem sofort lösen. Ansonsten hätte er ein vergiftetes politisches Umfeld, in dem er zwar an der Macht ist, aber die Opposition punktet."
Die Zeitung "Magyar Nemzet" aus Ungarn glaubt, die Urheber des Skandals zu kennen: "Bei Strache wissen wir wenigstens genau - anders als bei (dem 2008 tödlich verunglückten Jörg) Haider -, dass er Opfer einer Geheimdienstaktion wurde. (...) Wir müssen nämlich wissen, dass diese Geheimdienste überall dort sind, wo die nationalen Interessen die Unterstützung der Mehrheit genießen. Als nächste könnten Italien und Ungarn dran sein. Wenn wir wüssten, welcher Geheimdienst die Erledigung Straches organisiert hat, zusammen mit der angeblichen russischen Verbindung und der auf das Finish des Europa-Wahlkampfs getimten Veröffentlichung, dann würden wir auch sonst einiges wissen. Zum Beispiel, ob der gleichfalls aus der FPÖ kommende österreichische Innenminister in die richtige Richtung zielte, als er sagte, dass die Migrationsfreunde die österreichische Regierungskoalition gestürzt haben. Derzeit können wir uns nur in einem sicher sein: Die sind wirklich zu allem fähig, deshalb müssen wir im Bewusstsein dessen gegen sie kämpfen."