Streit unter Sozialisten Martin Schulz, ein wütender Franzose und die Nazis

Und wieder ein Nazi-Vergleich. Erst war Martin Schulz, Fraktionschef der EU-Sozialisten, selbst Opfer. Nun wird er bezichtigt, den französischen Genossen Emmanuelli verunglimpft zu haben. Ein bizarrer Streit ist entbrannt.

Unter den europäischen Sozialisten gärt es. Erst waren die französischen Genossen in der Debatte über die EU-Verfassung in zwei Lager zerfallen. Nun, nach dem "Non" der Franzosen in der Volksabstimmung, setzt sich der Konflikt auch in Brüssel und Straßburg fort. Jüngster Höhepunkt ist ein Streit zwischen Martin Schulz, dem Fraktionschef der Sozialisten im EU-Parlament, und Henri Emmanuelli, Ex-Chef der französischen Sozialisten und Abgeordneter der französischen Nationalversammlung. In einem Schreiben, das stern.de vorliegt, wirft der Franzose dem Deutschen vor, ihn in einem Interview falsch wiedergeben zu haben, um seine Aussagen mit jenen der Nationalsozialisten vergleichen zu können.

Befürworter und Gegner der EU-Verfassung

Verständlich ist der Streit nur vor dem Konflikt um die EU-Verfassung in Frankreich. In der internen Debatte der Sozialisten befinden sich die beiden in gegnerischen Lagern. Emmanuelli ist ein leidenschaftlicher Kritiker des EU-Vertrages. In der Zeit vor dem Referendum stellte er sich wortstark hinter Ex-Premier Laurent Fabius, einen der führenden Köpfe der PS. Dieser hatte sich einfach gegen ein eindeutiges Votum seiner Partei für die EU-Verfassung hinweggesetzt. Schulz, der in der SPD als Hoffnungsträger für die Zeit nach Schröder gilt, ist dagegen ein leidenschaftlicher Befürworter der Verfassung. In Frankreich warf er sich für den Vertrag in die Bresche. Dabei hatte er zuvor europaweit vor allem deshalb Berühmtheit erlangt, weil ihn der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi vor ziemlich genau zwei Jahren, Anfang Juli 2003, im Straßburger EU-Parlament mit einem KZ-Wärter verglichen hatte. Berlusconis Vergleich provozierte damals wütende Proteste.

"Ich kann so eine Gemeinheit nicht hinnehmen"

Nun scheinen sich die Dinge umzukehren. Aus Schulz, dem Opfer, wird Schulz, der Täter. In einem Brief vom 15. Juni, der stern.de vorliegt, bezichtigt Emmanuelli Schulz, ihn in einem Interview mit der Zeitung "Libération" falsch wiedergegeben zu haben - nur, so der Vorwurf, um ihn in einem Atemzug mit den Nationalsozialisten nennen zu können. "Du hast meine Worte verfälscht, um eine Parallele zum Nazismus herzustellen", schreibt Emmanuelli. "Verfälschen um zu beschimpfen. Du wirst einsehen, dass ich so eine Gemeinheit nicht hinnehmen kann".

Konkret geht es um ein Interview des Deutschen, das am 10. Juni veröffentlicht wurde. Darin sagt Schulz über die französische Kampagne: "Das Nein der Linken manifestiert eine nationalistische Tendenz. Ich habe den Abgeordneten Henri Emmanuelli am Abend des 29. Mai sagen hören: Ich bin stolz auf mein Volk, ich bin stolz auf meine Nation, ich bin stolz auf mein Land, das sich seine Souveränität erhalten hat." Dann kommt der Satz, der Emmanuelli am meisten erbost. "Wenn Sie diesen Satz auf Deutsch übersetzen, löste er Ängste aus, weil er auf eine schreckliche Periode unserer nationalen Geschichte verweist. Ich glaubte, dass so eine Ausdrucksweise auf immer verschwunden sein würde." Emmanuelli sieht sich durch Schulz' Worte in die Nähe der Nationalsozialisten gerückt. Das will er nicht auf sich sitzen lassen.

Franzose stellt Schulz' Sprachkenntnisse in Frage

In seinem Brief behauptet der 60-jährige Emmanuelli nun, diese Worte so nie gesagt zu haben. "Ich muss zugeben, dass ich mehrmals nachlesen musste, um zu glauben, was ich da vor Augen hatte", schreibt er. Der Franzose bestreitet, die Begriffe "Nation" und "nationale Souveränität" im Zusammenhang mit der Verfassung überhaupt benutzt zu haben. Schulz habe das irgendwie falsch verstanden. Als Beleg zitiert Emmanuelli eine seiner im Fernsehen übertragenen Aussagen vom Abend des 29. Mai.

Offenbar, so deutet er an, könne Schulz kein Französisch. Er habe den Begriff "französisch" fälschlicherweise einfach durch den der "Nation" ersetzt und übersehen, dass der französische Ausdruck für "Souveränität" auch ein Synonym des Begriffs des "allgemeinen Wahlrechts" sei, welches Emmanuelli bei seiner Aussage im Sinn gehabt habe. Absicht oder nicht, für Emmanuelli ist klar: "Du hast meine Worte verfälscht, um eine Parallele zum Nazismus herzustellen. Jedenfalls kann ich nicht sehen, auf welche andere Periode der deutschen Geschichte Du sonst verweisen könntest."

Theoretische Konfusion

Emmanuelli fordert von Schulz nun eine Gegendarstellung und eine Entschuldigung, wenn die Aussage lediglich auf Schulz' schlechtes Französisch zurückzuführen sei. Sollte Schulz jedoch den Begriff der "Souveränität" mit jenem des "allgemeinen Wahlrechts" verwechselt haben, so handele es sich um ein geistesgeschichtlich schwer wiegenderes Vergehen. Dann, so Emmanuelli, sei Schulz für seinen Job ungeeignet. "Jean-Jacques Rousseau und die Theoretiker des Reiches zu verwechseln, erscheint mir zumindest ein Zeichen ernster Wissenslücken zu sein, die wenig kompatibel sind mit Deinen Aufgaben." Er werde auf ein Antwort von Schulz warten, so der Franzose.

Schreiben ging an alle sozialistischen Abgeordneten

Bis zum Mittwoch Nachmittag antwortete der Deutsche nicht. Den Franzosen scheint das derart erzürnt zu haben, dass das Schreiben in der deutschen und französischen Fassung an alle sozialistischen Abgeordneten im EU-Parlament geschickt wurde. Am Nachmittag dann, so sagte ein Sprecher von Schulz stern.de, habe der Fraktionschef einen "persönlichen Brief" an Emmanuelli geschrieben, in dem er seine Äußerungen in der Zeitung "Libération" noch einmal klargestellt habe. Die Missverständnisse, so der Sprecher, seien in der Hitze des Gefechts um die Verfassung auch durch sprachliche Unklarheiten entstanden. Auch Emmanuelli hatte es in seinem Brief an Präzision mangeln lassen. Sein Schreiben hatte der Franzose an "Martin Schultz" gerichtet, den Fraktionschef der Sozialisten - und dabei just ein "t" zu viel eingefügt.