Syrische Flüchtlinge in der Türkei Niemand will so lange zu Gast sein

Das Klischee will, dass die Türken gastfreundlich sind. Ein Klischee, von dem Millionen von syrischen Flüchtlingen profitieren, die in gut ausgestatteten Lagern leben. Langsam aber stößt die Gastfreundschaft an ihre Grenzen.

Halb belustigt, halb ungläubig zeigt Eren Özdemir auf das mannshohe Regal neben dem Eingang: Knallgrüne Plastiktütchen füllen Meter um Meter, die Auswahl: eher eintönig. Es dominiert die Geschmacksrichtung Blumenkohl mit Broccoli. Wahrscheinlich hatte Özdemir als Vertreter des Welternährungsprogramms gehofft, die Gäste würden raffiniertere Spezialitäten aus Arabien mitbringen als ausgerechnet Tütennudeln. "Aber die Syrer lieben das Zeug, wir kannten das vorher gar nicht", sagt er und lenkt die Aufmerksamkeit lieber auf den Markt nebenan, wo es frische Bananen, Kiwis uns Auberginen gibt, die Tomaten 70 Cent das Kilo kosten und Kartoffeln 30 Cent. Özdemir findet, das sei zu teuer für die Menschen hier im Camp.

Es ist nicht so, dass die Flüchtlinge im Lager von Islahiye 1, einem der ältesten in der Türkei, Hunger und Not leiden würden. Anders als die große Mehrheit ihrer Landsleute, die verstreut im ganzen Land leben - zwei Millionen Menschen hausen unter erbärmlichen Bedingungen an den Rändern der Großstädte. Nein, in den 25 Lagern des Landes zeigt sich die Türkei von ihrer gastfreundlichsten Seite. 15 Euro bekommen die Bewohner monatlich vom World Food Programme für Lebensmittel, dazu legen die Regierung in Ankara und die Flüchtlingsbehörde AFAD noch einmal je zehn Euro drauf - für die Dinge des täglichen Bedarfs. Das reicht gerade einmal zum Überleben.

Fatima und Derwisch wollen keine Gäste mehr sein

Islahiye, gelegen in Südostanatolien, eine schöne aber karge Gegend, ist das Vorzeigecamp, in das die Regierung in Ankara gerne einlädt, wenn sie ihre Verdienste um die syrischen Flüchtlinge preisen will. Präsident Recep Tayyip Erdogan war schon hier, natürlich, auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und Angelina Jolie. Bilder zeigen die prominenten Besucher auf dem Gelände einer alten Tabakfabrik, das so ansehnlich angerichtet ist, wie es ein Flüchtlingslager eben erlaubt. Sorgsam reihen sich Zelt an Zelt, hinter dem Schulhof, der Waschküche, der Krankenstation, der Bäckerei und dem Kindergarten bis an den Horizont. Platz für 9000 Menschen - eine Kleinstadt an dessen Rand Staatsgründer Atatürk und Erdogan väterlich von riesigen Bildern hinabschauen.

Die Syrer gelten in der Türkei nicht als Flüchtlinge, sondern als Gäste. Das ist den Türken wichtig. Denn Gäste behandelt man zwar zuvorkommend aber vor allem: Gäste gehen auch wieder. Nur langsam sickert es ins öffentliche Bewusstsein, dass viele der geflohenen Menschen vielleicht doch länger bleiben werden. Oder müssen. Menschen wie Ahmed Mohammed, 60, zum Beispiel. "Als ich hierher kam, war ich erst froh. Aber nun sitze hier und warte. Und worauf? Was soll nun noch kommen?" Lieber gestern als heute würde er das Lager verlassen. Und dann? "Wer braucht mich denn noch in meinem Alter?" Ahmed Mohammed ahnt, dass sein kleines Zelt irgendwo in Südostanatolien vielleicht sein letztes Zuhause sein wird.

Von Ahmed Mohammeds gibt es hier sehr viele. Doch über sie sprechen die ohnehin eher schweigsamen türkischen Behörden nicht gerne. Dabei werden die durch die Zuwanderung entstehenden Probleme immer offensichtlicher. Vor allem im Süden des Landes steigen die Mieten rasant, einfache Jobs sind schwieriger zu bekommen, bei den Ärzten werden Behandlungstermine knapp und, wenn auch selten, kommt es zu Unruhen. Wie Ende 2014, als in einem vor allem von Flüchtlingen bewohnten Stadtteil von Gaziantep türkische Nationalisten gegen die Neuankömmlinge protestierte und die Polizei massiv einschreiten musste.

Das Lagerleben im Video

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So leben Syrer in einem türkischen Lager

Die Flüchtlingspolitik der Türkei wird weltweit gelobt - nicht nur weil sie mit Abstand die meisten Syrer aufnimmt und auch den Vorwürfen zum Trotz, die Regierung in Ankara würde neben den normalen Flüchtlingen auch Kämpfer des Islamischen Staates willkommen heißen. Doch den Gästen ihren Zwangsaufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, kostet Geld. Rund sieben Milliarden Euro sollen in den vergangenen Jahren in die Flüchtlingshilfe geflossen sein. Dank eines Abkommens mit der EU kann das Land bald auf eine Drei-Milliarden-Unterstützung hoffen, wenn sie im Gegenzug ihre Grenzen besser kontrolliert. Gemeint ist: sie schließt, auch für Syrer, die in den vergangenen Jahren doch so willkommen waren.

Schon seit einigen Monaten müssen Syrer ein Visum bei der Einreise vorlegen, nur die ganz schweren Fälle – Alte und Kranke - dürfen ohne entsprechende Papiere die Grenze passieren. Den Behörden kommen die höheren Zugangshürden nicht ganz unrecht, denn die Brandherde im Land nehmen rasant zu: Seit dem Sommer flammt der gewaltsame Konflikt mit den Kurden wieder auf und die Angst vor dem Islamischen Staat ist mit dem Attentat an der Blauen Moschee in Istanbul nicht kleiner geworden. Und dass der mutmaßliche Täter als Flüchtling in das Land gekommen sein soll, hilft dem Ansehen der Syrer auch nicht besonders. 

Die Jeans für 8 Euro

Möglicherweise ist die türkische Regierung sogar dabei, ihre bisherige Politik völlig auf den Kopf zu stellen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und Amnesty International berichten, dass die Türkei syrische Flüchtlinge in ihre Heimat abschiebt - was gegen internationales Recht verstoßen würde. Sollte das stimmen, würde das Land ihr Versprechen an die EU, weniger Syrer durchreisen zu lassen, vielleicht etwas zu konsequent umsetzen. Was wiederum kein gutes Licht auf die Europäer wirft, denn mit ihrem Abkommen wälzen sie die Verantwortung für die Flüchtlinge auf die überforderte Türkei und schließen die Augen vor den möglichen Konsequenzen.

Flüchtlingscamps in der Türkei

Den Menschen im Lager kann diese Entwicklungen der letzten Zeit natürlich nicht gefallen. Denn auch die internen Probleme nehmen zu. Es sind (noch) nicht einmal die gefürchteten islamistischen Seelenfänger, die beschäftigungslose Jugendliche als Dschihadisten rekrutieren. Niemand im Lager will sie je gesehen haben. Aber Zwangsheiraten zum Beispiel sind an der Tagesordnung. Für viele Familien sei es wichtig, ihre Töchter loszuwerden, damit sie ihren Eltern nicht auf der Tasche lägen, sagt eine örtliche UNHCR-Mitarbeiterin. Die Männer, meist die älteren sehen eher romantisch. "Ja, klar wird hier fleißig geheiratet", sagt etwa Bajat,55, fröhlich, der in Syrien mal Polizeispitzel war, in Ungnade fiel und nur durch sehr viel Glück der Todesstrafe entkam. "Und wenn die Männer kein Geld für einen teuren Ring haben, dann tut es auch ein billiger. Wir passen uns eben an." 

Warum die Menschen weggehen