Die Ukraine gibt nicht auf, so will es Wolodymyr Selenskyj verstanden wissen. "Das ist unser Staat", beschwörte er seine Truppen angesichts der verlustreichen Abwehrschlacht im Osten des Landes. "Dort im Donbass durchzuhalten ist lebenswichtig." Denn dort entscheide sich, welche Seite in den kommenden Wochen dominieren werde. "Es gibt Verluste, und sie sind schmerzhaft", sagte Selenskyj am Dienstag. Doch je höher die Verluste des Feindes seien, desto weniger Kraft habe er, die Aggression fortzusetzen.
Damit unternahm der Präsident einmal mehr den Versuch, die Entschlossenheit der Ukraine im zerstörerischen wie zermürbenden Angriffskrieg Russlands hochzuhalten, der nach 112 Tagen noch immer kein absehbares Ende kennt – und nun in eine kritische Phase eintreten könnte, die den langfristigen Ausgang des Konflikts bestimmen könnte.
Wenn kaum ein Stein mehr auf dem anderen ist – Vorher-Nachher-Bilder zeigen massive Kriegsschäden

Diese Ansicht vertreten jedenfalls westliche Geheimdienst- und Militärbeamte. Sie skizzieren derzeit drei Szenarien, berichtete der US-Sender CNN, wie der weitere Kriegsverlauf aussehen könnte:
- Russland macht schrittweise, aber weitere Geländegewinne im Osten. Die Sorge: Sollte es Russland gelingen, die Gebiete zu sichern, könnte Präsident Wladimir Putin das eroberte Territorium als Stützpunkt nutzen, um noch weiter in die Ukraine vorzudringen.
- Es kommt zu einer Pattsituation an den Frontlinien. Die Folge: Der Krieg zieht sich über Monate oder sogar Jahre, führt zu enormen Verlusten auf beiden Seiten und belastet längerfristig die Weltwirtschaft.
- Russland definiert seine Kriegsziele neu. Die Hoffnung: Der Aggressor verkündet einen Sieg, zieht sich zurück und versucht die Kämpfe zu beenden.
Letzteres Szenario, also ein Rückzug Russlands, gilt demnach als am wenigsten wahrscheinlich. Bedeutet im Umkehrschluss: Wesentlich wahrscheinlicher ist ein länger andauernder Krieg.
Präsident Selenskyj wird folglich nicht müde, den Westen weiter in die Verantwortung zu nehmen. "Ich bin sicher, wenn die Ukraine nicht stark genug ist, werden sie (Russland, Anm. d. Red.) weitergehen", sagte er am Dienstag und drängte abermals auf schnellere und weitreichendere Waffenlieferungen an sein Land. "Wir haben ihnen unsere Stärke gezeigt. Und es ist wichtig, dass diese Stärke auch von unseren westlichen Partnern gemeinsam mit uns demonstriert wird."
Die Mauer gegen Moskau bekommt erste Risse
In den vergangen Tagen zeigten mehrere Vertreter der Ukraine ihren Frust darüber, dass die lebenswichtigen Waffenlieferungen nur Stück für Stück eintreffen und äußerten Befürchtungen, dass die Unterstützung im entscheidenden Moment nachlassen könnte.
Denn schon jetzt deuten sich bereits erste Risse in der Mauer gegen Moskau an, zuletzt bei der Ausgestaltung weiterer Sanktionen. Immer häufiger spielen dabei auch nationale Interessen und Sorgen vor einer weiteren Eskalation eine Rolle. Der russische Präsident testet die Schmerzgrenze des Westens aus, versucht so die Entschlossenheit mit Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) und dem Wecken von Begehrlichkeiten (Lebensmittel und Energie) zu unterminieren.
Mit anderen Worten: "Russland führt seinen brutalen Krieg nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben. Russland führt diesen Krieg mit einer anderen schrecklichen und leiseren Waffe: Hunger und Entbehrung", wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte.
Und diese Waffe erweist sich als effektiv. Die öffentliche Aufmerksamkeit verlagert sich zunehmend vom Schlachtfeld auf Sorgen um die Lebenshaltungskosten, wie eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) nahelegt. Demnach bevorzugen die Befragten aus zehn europäischen Ländern (u. a. Deutschland, Italien, Frankreich) mittlerweile ein Ende des Konflikts, anstatt Russland zur Rechenschaft zu ziehen – selbst wenn dies bedeuten würde, dass die Ukraine Territorium verliert.
Die Studie kommt zu zentralen Schlussfolgerungen:
- Die Europäer empfinden zwar große Solidarität mit der Ukraine und unterstützen Sanktionen gegen Russland, sind aber hinsichtlich der langfristigen Ziele gespalten. Das "Frieden"-Lager (35 Prozent) will, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Das "Gerechtigkeit"-Lager (25 Prozent) sieht das dringendere Ziel darin, Russland zu bestrafen. In allen Ländern – bis auf Polen – ist das "Frieden"-Lager größer als das Lager "Gerechtigkeit"-Lager.
- Die größte Sorge der EU-Bürger sind steigende Lebenshaltungskosten und Energiepreise, gefolgt von der Gefahr einer nuklearen Eskalation.
- Die Regierungen müssen Wege finden, um die Kluft zwischen den Lagern zu überbrücken und die europäische Einheit zu stärken.
"Die Europäer haben Putin – und sich selbst – bisher durch ihre Einigkeit überrascht, aber jetzt kommen die großen Spannungen", zitierte der britische "Guardian" Mark Leonard, Mitautor der ECFR-Studie. Leonard zufolge sei die Fähigkeit der Regierungen entscheidend, die öffentliche Unterstützung für Maßnahmen aufrechtzuerhalten, die potenziell beiden Seiten schaden können. Er warnte davor, dass die Kluft zwischen den Lagern "so schädlich sein könnte zwischen Gläubigern und Schuldnern während der Eurokrise."
"Ich denke, sie werden versuchen, uns zu einem Friedensabkommen zu drängen"
In der Ukraine scheint man die Sorge zu teilen, dass sich die westliche Prioritäten verschieben könnten. So wies der Berater von Präsident Selenskyj, Oleksiy Arestovych, vorauseilend einen möglichen Friedensplan nach dem Vorbild der Minsker Vereinbarung zur Befriedung der Ostukraine zurück.
"Ich denke, sie werden versuchen, uns zu einem Friedensabkommen zu drängen, wegen der Lebensmittelprobleme", sagte Arestovych vor dem offenbar geplanten Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi zur "Bild"-Zeitung.
"Ich fürchte, sie werden versuchen, ein Minsk III zu erreichen. Sie werden sagen, dass wir den Krieg beenden müssen, der Ernährungsprobleme und wirtschaftliche Probleme verursacht, dass Russen und Ukrainer sterben, dass wir das Gesicht von Herrn Putin wahren müssen, dass die Russen Fehler gemacht haben, dass wir ihnen verzeihen müssen und ihnen eine Chance geben müssen, in die Weltgesellschaft zurückzukehren." Das sei ein Problem für die Ukraine, so Arestovych.
Gerade spricht vieles dafür, dass Kanzler Scholz und seine Amtskollegen aus Italien und Frankreich am Donnerstag in die ukrainische Hauptstadt Kiew reisen (mehr dazu lesen Sie hier). Die Erwartungen an den erwarteten Besuch hängen hoch. Lange hatte Scholz gezögert, eine solche Reise überhaupt anzutreten. Zunächst musste eine Reiserangelei um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beigelegt werden, später erklärte der Kanzler, er werde sich "nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes rein und raus mit einem Fototermin was machen", sondern wenn, "dann geht es immer um ganz konkrete Dinge."
"Wir möchten auch nicht, dass er nur zu einem Fototermin kommt", sagte Präsident Selenskyj in einem ZDF-Interview – und äußerte gleich mehrere Erwartungen an seinen mutmaßlichen Gast:
- "Wir hoffen auf militärische Unterstützung der Ukraine seitens Deutschlands."
- "Darüber hinaus erwarte ich, dass er uns persönlich unterstützt und dass er persönlich zuversichtlich ist, dass die Ukraine der EU angehören kann und dass der Status eines Beitrittskandidaten der Ukraine bereits im Juni verliehen wird."
Doch die Erwartung von Selenskyj an Scholz gehen noch weiter: "Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt. Er und seine Regierung müssen sich entscheiden: Es darf kein Spagat versucht werden zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland, sondern man muss für sich wählen, wo man die Prioritäten setzt."
Selenskyj glaubt, das deutsche Volk habe sich schon entschieden. Der Führung falle das angesichts vieler verschiedener Herausforderungen schwer. "Ich kann das nachvollziehen", sagte er.