Ukraine-Konflikt "Anerkannte Separatistengebiete": Was bedeutet die neueste Eskalationsstufe Putins?

Ukraine-Krise: Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Armee posieren für ein Foto am "Tag der Einheit"
Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Armee posieren für ein Foto am "Tag der Einheit". Putin hat inzwischen die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ukraine verkündet.
© Emilio Morenatti / DPA
War die Lage an der ukrainischen Grenze bereits ernst, droht sie nun außer Kontrolle zu geraten. Mit Russlands Anerkennung der abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk ergibt sich eine völlig neue Ausgangslage. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze gerät zusehends außer Kontrolle. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit hat Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag erklärt, die beiden abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als unabhängig anzuerkennen. Am Dienstag ratifizierte die Staatsduma erwartungsgemäß die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken. 

Für die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten – darunter auch Deutschland – bedeutet dies eine völlig neue Eskalationsstufe in einer ohnehin schon äußerst angespannten Situation. Ein Überblick.

Wie stellt sich die aktuelle Lage dar? Wir zeigen's Ihnen in unserer Grafik:

Was sind die Separatistengebiete?

Die beiden ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk – zusammen bekannt unter dem Namen "Donbass" – hatten sich bereits 2014 von der Kiewer Regierung losgesagt und für unabhängig erklärt. Die internationale Staatengemeinschaft akzeptierte die selbstausgerufenen "Volksrepubliken" allerdings nicht. Obwohl die pro-russischen Separatisten seitdem teils verdeckt, teils ganz offen vom Kreml unterstützt wurden, hatte auch Russland die Unabhängigkeit des Donbass nicht offiziell anerkannt. 

Das Verhältnis der Ukraine zu seinen abtrünnigen Gebieten hatte in den folgenden Jahre immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen geführt: 15.000 Menschen sollen in den vergangenen acht Jahren bei Kämpfen ums Leben gekommen sein. In dieser Zeit hatte der Kreml als inoffizielle Schutzmacht laut Informationen der Nachrichtenagentur Reuters mehr als 800.000 russische Pässe an die Einwohner des Donbass ausgestellt. 

Was bedeutet Putins Dekret für die Ukraine?

Trotz des immer lauter werdenden Säbelrasselns der vergangenen Wochen, hatte die Regierung Putin immer bestritten, in die Ukraine – zu der der Donbass offiziell weiter gehört – einzumarschieren. Mit Russlands Anerkennung von Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten ändert sich die Situation nun grundlegend: Es bedeutet das Aus für das Minsker Friedensabkommen. Die 2014/15 zwischen Russland, der Ukraine, Deutschland und Frankreich getroffene Vereinbarung hatte ein hohes Maß an Autonomie für die beiden Regionen vorgesehen. Obwohl bis heute nicht umgesetzt, hatten die Beteiligten das Abkommen bis dato stets als aussichtsreichste Lösung für den Konflikt angesehen.

Weil die beiden Regionen aus russischer Sicht nun nicht mehr Teil des ukrainischen Staatsgebiets sind, könnte Moskau ganz offen Truppen entsenden und sich dadurch den begehrten Landweg zur bereits annektierten Halbinsel Krim sichern. Aus diesem Grund bezeichnet Präsident Putin seine Grenzsoldaten als Friedenstruppen: Aus seiner Sicht verteidigt Russland lediglich einen Verbündeten. Allerdings kontrolliert die Ukraine weiterhin Teile der abtrünnigen Regionen – schließlich gehören sie aus der Perspektive Kiews zum Staatsterritorium.

Welche Schritte könnte Russland als nächstes unternehmen?

Der US-Denkfabrik "Atlantic Council" zufolge kommt die Anerkennung der Separatisten allerdings wenig überraschend. "Putin wusste, dass er den Landraub durchführen kann, ohne dass der Westen die scharfen Sanktionen verhängt", schreibt Michael Bociurkiw, Analyst im Expertengremiums des "Eurasia Center". Laut Reuters-Informationen könnten die Separatisten Putin um Hilfe bitten, Kiew die Kontrolle vollständig zu entreißen. Das wiederum würde wahrscheinlich einen offenen, militärischen Konflikt heraufbeschwören. Auch die russischen Truppen, die eigentlich nach dem Ende der Manöver in Belarus am Sonntag hatten abziehen sollen, sollen auf unbestimmte Zeit an der ukrainischen Nordgrenze stationiert bleiben – drei Autostunden von Kiew entfernt. Der Krieg ist buchstäblich so nah wie lange nicht – zumindest theoretisch.

Denn die Entsendung der Truppen dürfte nur der nächste Schritt in Putins Plan sein, meint Thomas Warrick, ehemaliger stellvertretender Ministerialdirektor für Terrorismusbekämpfung im US-Ministerium für Innere Sicherheit in dem "Atlantic Council"-Beitrag. Moskau verfolge einen "vierteiligen Plan zur hybriden Kriegsführung". Ein Angriff auf Kiew und das Installieren einer "Marionettenregierung" sei unwahrscheinlich – zu sehr fürchte sich Putin vor noch weitreichenderen Sanktionen. Vielmehr, so Warrick, wolle Moskau den Druck solange erhöhen, bis sich die Ukraine und der Westen zu Verhandlungen und letztlich echten Eingeständnissen gezwungen sähen. 

Wie reagiert der Westen?

In den vergangene Wochen hatten westliche Regierungen Russland immer wieder davor gewarnt, dass Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze schwerwiegende Konsequenzen, vor allem finanzielle / wirtschaftliche Sanktionen nach sich zögen. Angesichts der jüngsten Verschärfung des Konflikts kann und muss der Westen nun auf den Völkerrechtsbruch des Kreml reagieren.

Die USA halten sich ob der neuen Eskalationsstufe bislang zurück. Einem Bericht des "Time-Magazine" zufolge erließ das Weiße Haus eine Verfügung, die es Amerikanern verbietet, in den Separatistenregionen zu investieren oder Geschäfte zu tätigen. Zuvor war ein Treffen zwischen US-Präsident Biden und seinem russischen Amtskollegen im Gespräch. Ob es nach Putins Äußerungen am Montag noch dazu kommt, ist fraglich.

Ukraine-Krise: Russlands Präsident Wladimir Putin hält seine Rede
Wladimir Putin wandte sich in einer rund einstündigen Rede im Staatsfernsehen an sein Volk
© Alexey Nikolsky/Sputnik/ / AFP
Scharfe Kritik an Russlands Vorgehen – USA bezeichnen Putin-Erklärung als "Unsinn"

Während die USA die neue Eskalationsstufe zunächst nicht als Invasion bezeichnete (der stern berichtete), hat die EU-Kommission in Brüssel am Dienstag bereits weitreichende Sanktionen gegen Russland vorgeschlagen. Ein den Mitgliedstaaten präsentierter Entwurf sieht Angaben von Diplomaten zufolge vor, den Handel mit russischen Staatsanleihen zu verbieten, um eine Refinanzierung des russischen Staats zu erschweren. Zudem sollen mehrere Hundert Personen und Unternehmen auf die EU-Sanktionsliste kommen.

Die britische Regierung will ebenfalls scharf reagieren. Es werde ein Sofortpaket von Wirtschaftssanktionen geben, kündigte Premierminister Boris Johnson in London an. Sollte Russland eine umfassende Invasion starten, würden weitaus härtere Maßnahmen greifen.

Die bislang drastischste Reaktion auf deutscher Seite ist der Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag erklärte, legt die Bundesregierung das Projekts vorerst auf Eis. Waffenlieferungen seien jedoch weiterhin nicht geplant.

Damit geht Berlin teilweise auf die Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein, der einen vollständigen Stopp der Pipeline verlangt hatte. Der ukrainische Staatschef erwägt zudem einen Abbruch der Beziehungen zu Russland. Er habe ein entsprechendes Ersuchen seines Außenministeriums erhalten und werde dieses nun "prüfen", sagte Selenskyj am Dienstag in Kiew. 

Quellen: "Reuters"; "Time"; "Atlantic Council"; mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP