Die Ukraine verteidigt sich tapfer, aber das Land steht mit dem Rücken zur Wand. Wie sieht es in den einzelnen für den Krieg entscheidenden Bereichen aus?
Seekrieg – überraschende Erfolge der Ukraine
Zur See hat die Ukraine große Erfolge erreicht, aber sie hat nicht die Oberhand. Die ukrainischen Zerstörer und Fregatten wurden von den Russen zu Beginn des Krieges vernichtet. Psychologisch hat das den Vorteil, dass Kiew keine weiteren Kriegsschiffe verlieren kann. Die Russen können ihr Übergewicht zu Wasser nicht nutzen. Ihre großen Schiffe sind wertvolle Ziele und werden regelmäßig von Raketen und Schwimmdrohnen angegriffen. Die russische Flotte erleidet dann ebenso regelmäßig Verluste. Ihre Gegenschläge gegen die kleinen Drohnen, Lager und Operateure wiegen den Verlust der Kampfschiffe nicht auf. Den Russen bleibt kaum etwas anderes übrig, als ihre Schiffe am anderen Ende des Schwarzen Meeres zu verstecken.

Strategische Luftoffensive der Parteien
Beide Seiten greifen strategische Ziele und Infrastruktur des Gegners in der Tiefe seines Raumes an. Für die Ukraine ist das ein Erfolg, weil man es ihr nicht zugetraut hätte und sie so den Krieg auf russisches Territorium trägt. Dafür werden Drohnen benutzt, die auf einfachen Leichtflugzeugen basieren. Sie haben eine gewaltige Reichweite und sind im Tiefflug schwer zu entdecken und abzufangen. Die schiere Größe des Landes wird zum Problem, die russische Abwehr kann einfach nicht alle denkbaren Ziele adäquat schützen. Wirklichen Einfluss auf den Kriegsverlauf haben die Einsätze trotz spektakulärer Erfolge nicht. Allein die Treffer in den Ölraffinerien erzielen eine spürbare Wirkung.
Von der anderen Seite läuft die russische strategische Luftoffensive. Die Russen sind in der Lage, jedes Ziel in der Ukraine anzugreifen. Sie können allerdings nicht alle Zonen mit ihren Drohnen aufklären. Sie vermochten es in fast zweieinhalb Jahren Krieg nicht, die ukrainische Luftwaffe zu zerstören, den Strom im Land abzuschalten und die Versorgung der Front mit Nachschub zu unterbinden. Aber sie arbeiten daran, und jeden Tag muss die Ukraine Verluste hinnehmen. Insbesondere die Angriffe auf die Energieversorgung haben 2024 eine neue Qualität erreicht. Sie sind sorgsam geplant und zielen darauf ab, die zentralen Einrichtungen der Anlagen komplett zu zerstören, sodass eine Reparatur nicht möglich ist.
Während die russischen Waffen tödlicher und präziser werden, wird die ukrainische Luftverteidigung außerhalb von Kiew immer schwächer. In manchen Regionen ist sie nicht existent. Die Russen schalten mehr Einrichtungen aus, als der Westen neue liefert. Ein starker Engpass ist die Anzahl der Abwehrraketen. Die Russen starten mehr Angriffswaffen, als Abwehrraketen produziert werden.
Bodenkrieg – Kiews Front gibt nach
Seit Monaten verschieben die Russen die Front zu ihren Gunsten, in der gesamten Front im Donbass drücken sie die ukrainischen Stellungen ein. Dabei gelingen ihnen dann und wann auch echte Einbrüche, aber deren Tiefe ist gering. Es bleibt bei einem Stellungskrieg, es kommt nicht zu einem echten Bewegungsgefecht mit raumgreifenden Manövern. Wegen der Art des Krieges in der Ukraine wird das absehbar nicht geschehen.
Die Russen haben genug Truppen, um auch an anderen Abschnitten aktiv zu werden. Dort binden sie die Ukrainer, aber auch die Russen leiden an Personalnot. Trotz der Größe des Landes ist ihre Überlegenheit an Truppen begrenzt. Die Eröffnung einer neuen Front nördlich von Charkiw hat dort nur zu unbedeutenden Geländegewinnen geführt. Doch seitdem Kiew Truppen in den Norden verlegen musste, fällt es den Ukrainern merklich schwerer, die Front im Osten zu stabilisieren.
Gelegentlich wird eingewandt, dass der Vormarsch der Russen so langsam ist, dass sie noch über zehn Jahre benötigen werden, um an den Dnepr zu gelangen. Das ist nicht falsch, verkennt aber die Art der Kämpfe. Kiew kann diesen hinhaltenden Widerstand nicht noch zehn Jahre durchhalten. Das russische Kalkül basiert darauf, dass die fortwährenden Verluste früher oder später zum Kollaps größerer Einheiten und Frontabschnitte führen.
Rüstungsproduktion und Finanzen – Abhängigkeit vom Westen
Auf diesem Feld hat Moskau die Welt überrascht. Der Westen ging davon aus, dass seine "nie dagewesenen" Sanktionen Russland in die Knie zwingen würden, dass sowohl das Finanzsystem wie die Rüstungsindustrie zusammenbrächen. Innerhalb weniger Monate sollte etwa die Produktion von Präzisionswaffen enden. All das ist nicht passiert. Putin finanziert den Krieg mit den Einnahmen aus Rohstoffen, und die russische Rüstungsindustrie ist stärker denn je.
Kiew hingegen ist fast ausschließlich auf Hilfen aus den Unterstützerstaaten angewiesen. Aus eigener Kraft kann weder der Krieg geführt noch der Staatshaushalt finanziert werden. Das ist ein extremes Ungleichgewicht, denn nicht Kiew, sondern die Unterstützerstaaten bestimmen die Größe der Hilfe.
Solange sie sprudelt, mag das noch angehen. Sollten aber große Supporter – wie die USA unter einem möglichen Präsidenten Trump – abspringen, bricht das System zusammen. Dazu ist Russland in eine Kriegswirtschaft eingetreten und bereitet eine mentale Mobilisierung des ganzen Landes vor. Davon kann in den Unterstützerstaaten der Ukraine keine Rede sein. Frankreich, Deutschland, Großbritannien sind weiterhin Friedensgesellschaften, in denen den Bürgern die Ferien mehr beschäftigen als der Krieg im Osten. Unsere Gesellschaften mobilisieren nur einen Bruchteil ihrer theoretischen Kapazität für die Sache der Ukraine.
Verluste – das große Geheimnis
Das wesentliche Narrativ, das eine Siegchance für Kiew stützen soll, basiert auf den Verlusten. Im Grunde sagt es aus, dass die russischen Verluste ungleich höher sind als die der Ukrainer. Damit die Ukraine eine Chance hat, muss Russland ein Mehrfaches der ukrainischen Verluste erleiden. Nur ein paar Prozent reichen nicht aus. Dieses Narrativ stützt sich auf irreführende Propaganda-Begriffe wie "Fleischangriffe" oder "Attacken von menschlichen Wellen". Etwas sachlicher darauf, dass der Angriff in der Regel mehr Verluste mit sich bringt als die Verteidigung. Optisch wird es von Videos unterlegt, die zeigen, wie russische Angriffe im ukrainischen Feuer zusammenbrechen.
Gegen diese Annahme spricht die unvergleichliche Überlegenheit der Russen in Sachen Feuerkraft. Sie sind bei leichter Artillerie wie den 120-mm-Mörsern und schwerer, den 152-mm-Haubitzen, den Ukrainern weit überlegen. Teilweise waren sie es im Verhältnis von eins zu zehn, dank neuer Munitionslieferungen sollen es jetzt "nur noch" eins zu fünf sein. Dazu kommen Vernichtungswaffen, die die Ukraine gar nicht besitzt. Etwa die thermobaren TOS-Raketenwerfer. Und vor allem sind die russischen Gleitbomben zu nennen. Sie reichen von 250 Kilogramm bis hin zu Bomben von 3000 Kilogramm. Jede dieser Bomben führt zu Verlusten – eine 3-Tonnen-Bombe vernichtet mit einem Schlag ein befestigtes Fabrikgebäude mitsamt der Besatzung. Derzeit sollen die Russen etwa 3000 Gleitbomben im Monat einsetzen.
Strategische Ziele
Auf den ersten Blick ein klarer Erfolg der Ukraine: Putin wollte die unabhängige, nach Westen orientierte Ukraine innerhalb weniger Tage zerschlagen und gegen ein Moskau genehmes Regime ersetzen. Jetzt – beinahe zweieinhalb Jahre später – gibt es die freie Ukraine immer noch. Blickt man tiefer, wird das Bild unübersichtlicher. Die Nato ist mit Schweden und Finnland weiter gewachsen. Putin hat nun eine weitere Grenze mit einem Nato-Staat, dazu ist die Ostsee zu einem Nato-Binnenmeer geworden.
Aber Putin kann auch Erfolge verbuchen. Der erste und vielleicht entscheidende: Der Globale Süden hat den Westen abblitzen lassen mit seinem Wunsch, sich dem Wirtschaftskrieg und dem Sanktionsregime anzuschließen. Und damit klargemacht, auch in Zukunft einen eigenständigen Kurs zu folgen. Die Diplomaten des Westens haben ihren weltweiten Einfluss massiv überschätzt und wurden 2022 rüde aufgeweckt.
Dazu ist die Zweckgemeinschaft von Moskau und Peking sehr viel enger geworden. Strategisch gesehen, wird in einer möglichen Auseinandersetzung mit China Russland fest an der Seite Pekings stehen. Dazu haben sich die erklärten Feindstaaten des Westens (Russland, Iran, Nordkorea und mit Einschränkungen China) in Sachen militärischer Zusammenarbeit zusammengeschlossen. Obendrein hat Frankreich seinen postkolonialen Griff auf die Länder Nordafrikas in dieser Zeit verloren. Diese Stelle füllen nun China und Russland aus.
Ausblick – kein "Weiter so!"
Da niemand die genaue Situation an der Front kennt, ist ein Ausblick immer spekulativ. Das vorweg. Kiew bleibt nur wenig Zeit. So heroisch der Abwehrkampf auch ist, er kann nicht ewig fortgeführt werden. Insbesondere die Entwicklung im Donbass ist nicht statisch und geordnet. Die schleichende Offensive der Russen hat Erfolg, und sie nimmt Fahrt auf. Die Zersetzung der Front nimmt zu.
Westliche Experten hoffen, dass die russische Rüstungsproduktion im Jahr 2026 deutlich einbrechen wird. Doch so wie im letzten halben Jahr kann Kiew den Krieg nicht bis ins Jahr 2026 weiterführen. Ein "Durchhalten und weiter so!" wird nicht reichen. Kiew wird 2024 nicht in die große Offensive gehen, aber die Bedingungen für den Abwehrkampf müssen sofort deutlich verbessert werden.
Die Ukraine benötigt viel mehr Luftverteidigung, derzeit ist der größte Teil des Landes ein "Haus ohne Dach". Die Russen können zuschlagen, sobald sie ein Ziel ausgemacht haben. Abwehr allein wird nicht reichen. Die ukrainische Luftwaffe muss West-Jets wie die F-16 oder die Mirage schnell in großer Zahl in die Luft bringen, um so die russischen Gleitbomben zu stoppen. Die Bodentruppen können nicht zwei Jahre lang 3000 Gleitbomben im Monat aushalten.
Gleichzeitig muss genügend Kriegsmaterial ins Land kommen, um neue Einheiten auszurüsten und die Verluste an der Front auszugleichen. geschieht das nicht, wird sich die Lage massiv verschlechtern und das bevor Donald Trump womöglich wieder ins Weiße Haus einzieht.