In der durch die ukrainische Armee zurückeroberten Stadt Isjum im Gebiet Charkiw ist nach Aussage von Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Massengrab gefunden worden. "Die nötigen prozessualen Handlungen haben dort schon begonnen", erklärte der Staatschef in einer am Donnerstag in Kiew verbreiteten Videobotschaft ohne Details zur Anzahl der Leichen oder der Todesursache zu nennen. An diesem Freitag sollen Journalisten zu dem Massengrab gebracht werden. "Wir wollen, dass die Welt erfährt, was wirklich passiert und wozu die russische Okkupation geführt hat", sagte Selenskyj.
Polizeichef spricht von etwa 440 Leichen
Präsidialamtschef Andrij Jermak warf den russischen Truppen Mord vor und veröffentlichte ein Foto von einem Waldgebiet mit grob gezimmerten Holzkreuzen. Alle in dem Massengrab gefundenen Leichen würden exhumiert und gerichtsmedizinisch untersucht, kündigte Jermak an. Regionalpolizeichef Sergej Botwinow sprach gegenüber dem Sender Sky News von einer Grabstätte mit etwa 440 Leichen, die in Isjum entdeckt worden sei. Einige der Menschen seien durch Schüsse getötet worden, andere während Bombardierungen gestorben.
Die Russen hatten das Gebiet am Samstag ukrainischen Angaben zufolge nach einer Gegenoffensive der ukrainischen Kräfte fluchtartig verlassen. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte von einer "Umgruppierung" seiner Truppen gesprochen, während selbst kremlnahe Quellen von einer verheerenden Niederlage sprachen. Selenskyj hatte Isjum am Mittwoch besucht.
"Butscha, Mariupol und jetzt leider auch Isjum: Russland hinterlässt überall Tod und muss sich dafür verantworten. Die Welt muss Russland zur echten Verantwortung für diesen Krieg ziehen", forderte der Staatschef. Die Ukraine hat nach dem Abzug der russischen Truppen im Frühjahr aus dem Kiewer Vorort Butscha sowie in zahlreichen anderen Orten, darunter in der von Moskau eingenommenen Hafenstadt Mariupol, schwerste Kriegsverbrechen beklagt. In Butscha waren nach ukrainischen Behördenangaben Hunderte Zivilisten, in Mariupol Tausende getötet worden.
Was von den russischen Besatzern übrigblieb – die Gebiete im Nordosten nach ihrer Befreiung

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schloss derweil nicht aus, dass der russische Präsident Wladimir Putin künftig vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Rechenschaft gezogen wird. Es stehe außer Zweifel, dass in der Ukraine schwerste Kriegsverbrechen begangen würden, sagte von der Leyen Bild TV. Einen Prozess gegen Putin vor dem IStGH halte sie "für möglich".
Die Kommissionspräsidentin forderte die europäischen Staaten dazu auf, die militärische Hilfe an die Ukraine auszuweiten. "Wenn sie sagen, sie brauchen Kampfpanzer, dann sollten wir das ernst nehmen und sollten ihnen das liefern", sagte sie Bild TV. Die Ukrainer hätten bewiesen, dass sie sich verteidigen könnten, wenn sie die "richtigen militärischen Mittel haben".
USA sagen Ukraine weitere Militärhilfen zu
Die US-Regierung kündigte derweil weitere Militärhilfe für die Ukraine im Umfang von umgerechnet 600 Millionen Euro an. Das neueste Hilfspaket umfasst militärische Ausrüstung und Unterstützung sowie Ausbildung. Geliefert werden sollen nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums unter anderem 37.000 Schuss Artilleriemunition sowie vier Artillerie-Abwehrradaranlagen. Auch weitere Munition für die von den USA bereits gelieferten Himars-Raketenwerfersysteme werde bereitgestellt.

Gleichzeitig verkündete Washington Sanktionen gegen zahlreiche weitere russische Behördenvertreter und Unternehmen vor allem im Technologiebereich auf ihre Sanktionsliste. Betroffen sind unter anderem prorussische Beamte in besetzten Gebieten der Ukraine, aber auch eine im Ukraine-Krieg kämpfende russische Neonazi-Gruppe und Putins Kinderschutzbeauftragte Maria Alexejewna Lwowa-Belowa. Sie wird verdächtigt, die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland sowie Zwangsadoptionen zu beaufsichtigen.
Die US-Regierung verhängte zudem ein Verbot für den Export von Quantencomputer-Technologie sowie damit zusammenhängender Soft- und Hardware nach Russland und Belarus. Darüber hinaus wurden Sanktionen gegen die russische Raumfahrtindustrie sowie Computer- und Technologieunternehmen verhängt. Damit soll vor allem der Nachschub an Rüstungsgütern und die Modernisierung des russischen Militärs nach schweren Verlusten im Ukraine-Krieg behindert werden.