Umsturz in Tunesien "Die Anarchie könnte gut in einer anderen Diktatur enden"

In Tunesien hat sich das Volk gegen die Knechtschaft von Diktator Ben Ali erhoben. Die ausländische Presse sieht den Aufstand mit vorsichtiger Hoffnung. Einige Kommentatoren befürchten allerdings, dass die Tuniesier vom Regen in die Traufe gelangen könnten.

In Tunesien herrscht gespannte Erwartung: Nach der Flucht von Diktator Ben Ali soll am Montag eine Übergangsregierung aus Oppositionspolitikern und Unabhängigen vorgestellt werden. Die ausländische Presse zeigte sich unterdessen weniger optimistisch. Viele Kommentatoren befürchten eine neuerliche Diktatur - oder die Herrschaft von Islamisten.

"Neue Zürcher Zeitung" aus der Schweiz

Die in Zürich erscheinende "Neue Zürcher Zeitung" kommentiert am Montag die Unruhen in Tunesien:

"Ben Alis Abgang erfreut gewiss all jene Tunesier, die sich nach Demokratie und einem freieren, weniger vom Staat kontrollierten Leben sehnen. Er ist aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für einen politischen Neuanfang. Nach wie vor beherrschen Ben Alis Gefolgsleute und Anhänger die meisten staatlichen Institutionen. Ihr bisheriges Betragen deutet nicht darauf hin, dass sie nach der Flucht ihres Beschützers ihre Machtpositionen freiwillig aufgeben. Der neue Präsident Fouad Mebazza hat zwar ein Bekenntnis zum politischen Pluralismus abgelegt. Aber seine bisherige Karriere weist ihn als Gefolgsmann des gestürzten Präsidenten aus. Dies weckt Zweifel an der Bereitschaft Mebazzas, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen und gänzlich freie Wahlen durchzuführen."

"Le Figaro" aus Frankreich

Die konservative Pariser Zeitung "Le Figaro" lobt die Haltung der tunesischen Militärs:

"Man muss die Zurückhaltung des tunesischen Militärs in diesen historischen Tagen anerkennen. Die Versuche der Destabilisierung durch politische Provokateure müssen eingedämmt werden und die Wirtschaft muss in Gang gehalten werden. Langsam organisiert sich die Bevölkerung und nimmt ihr Schicksal in die Hand. Gleichzeitig zeichnet sich der politische Übergang ab. Von der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die so repräsentativ wie möglich sein sollte, hängt die Organisation allgemeiner Wahlen ab, die bald stattfinden sollten. Angesichts der bisherigen Politik ist Frankreich schlecht beraten, Lehren zu erteilen oder einen Fahrplan zu diktieren. Doch Paris hat schnell reagiert und sich vom entmachteten Präsidenten und seinen Anhängern klar distanziert."

"Libération" aus Frankreich

Die Pariser Zeitung "Libération" fragt angesichts der chaotischen Zustände in Tunesiens nach der Zukunft des Landes:

"Die Anarchie könnte gut in einer anderen Diktatur enden. Und wenn sich tatsächlich die Demokratie durchsetzen sollte, könnte dies zuallererst den Islamisten zugute kommen, die bei den unteren Schichten der Bevölkerung gut ankommen. Diese Hypothese ist übrigens nicht unwahrscheinlich: Der alte tunesische Integristenführer Rached Ghannuschi, der sich nach London zurückgezogen hatte, kann nun ruhmvoll zurückkommen. In einer freien Wahl kann er erfolgreich seine Bewegung lancieren, die bislang verboten war - die Hizb Ennahda (Partei der Wiedergeburt)."

"Independent" aus Großbritannien

Die britische linksliberale Zeitung "Independent" befürchtet ein Überspringen des Volkszorns auf Nordafrika:

"Tunesien gehört zwar zu den kleinsten Ländern Nordafrikas, doch der Geist der Revolte, der dort entstand, könnte auf das übrige Nordafrika übergreifen. Fast jedes Land ist mit ähnlichen Übeln geplagt: Korrupte und unterdrückende Regimes, die auf die Bedürfnisse der Bürger nicht reagieren, scharfe soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, hohe Nahrungsmittelpreise und eine große jugendliche Bevölkerung mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Schlussfolgerung, dass in Nordafrika endlich ein Wandel eingeleitet wurde, oder dass sich die Dinge nun zum Besseren wenden, wäre verfrüht. Es kann noch mehr Gewalt ausbrechen, es kann zu Unruhen und zu Militäraktionen kommen, bevor sich die Lage bessert. Der Westen wird als Beobachter der Szenerie starke Nerven benötigen."

DPA
jwi/DPA/AFP