So ein europäischer Spitzenkandidat, der hat's ja ohnehin nicht leicht. Er muss ständig gegen irgendetwas kämpfen. Gegen das grassierende Desinteresse an Europa, etwa, gegen rabiate Ablehnung bei den Wählern. Gegen die übermächtigen Regierungen. Und das alles in 28 Ländern! Am besten gleichzeitig.
Richtig schwer hat's so ein europäischer Spitzenkandidat, wenn eine groß angelegte TV-Debatte dann ausgerechnet auf den ersten lauen Sommerabend des Jahres fällt. Denn wer – mit Verlaub – hat schon Lust auf eine knifflige Europa-Lehrstunde, ob im Livestream oder konventionell, wenn der Abend eigentlich nach anderem verlangt als nach Kommission, Richtlinie und Beitrittsverhandlung: nach leichtem Weißwein, süffigem Bier, dem Geruch von Holzkohle und Gegrilltem? Am schwersten aber hat's ein europäischer Spitzenkandidat, wenn zwei ARD-Moderatoren auf ihn losgelassen werden, die offenbar klare Aufträge haben: nämlich jene, jede erhellende politische Debatte über die Europawahl, den Kontinent und seine Politik sofort zu ersticken; die jede direkte Konfrontation zwischen gutwilligen und bemühten Kandidaten verhindern, nur um ein starres Sendungsformat durchzuziehen; die kein Gespür für die Persönlichkeiten und Knackpunkte dieser Wahl haben.
Und so hatten Martin Schulz von der SPD und Jean-Claude Juncker von der Europäischen Volkspartei (EVP) gestern Abend in der "Wahlkampfarena" des Ersten Deutschen Fernsehens einen schweren Stand. Kaputt moderiert wurden sie während der 75-Minuten-Sendung von Andreas Cichowicz vom NDR und von Sonia Seymour Mikich vom WDR. Die Journalisten ließen den Politikern nicht zu wenig, sondern gar keinen Raum, sich zu entfalten.
Dabei ist die Idee des Arena-Formats gut. Rund 200 Bürger, angeblich repräsentativ für die deutschen Wähler, konnten im so genannten Town-Hall-Setting vor der Kulisse des Hamburger Hafens die Kandidaten befragen. Während der Bundestagswahl hat das mit Peer Steinbrück und mit Angela Merkel für lebhafte Sendungen gesorgt. Eine geschickte Moderation, das Nachhaken an passender Stelle, das Befeuern von Kontroversen, das alles kann den Abend in so einer Arena spannend machen.
"Mir passt das"
Cichowicz und Mikich verpassten diese Chance. Zu schnell schnitten sie Schulz und Juncker das Wort ab, verhinderten zu oft, dass dieselbe Bürgerfrage von beiden Kandidaten beantwortet werden konnte, erstickten die direkte Diskussion. Zwischendurch forderten sie die Politiker auf, nur mit Gesten zu Antworten. Man hatte den Eindruck, den Moderatoren wäre es am liebsten, das Frage-und-Antwort-Spiel würde nonverbal ausgetragen. So durfte Juncker eine Frage zu Conchita Wurst beantworten ("Ich bin ein toleranter Mensch. Mir passt das."), Schulz eine zur Energiepolitik, Juncker eine zum Wahlrecht, Schulz eine zum Lobbyismus. "Vielleicht finden wir eine Frage für Herrn Schulz zu einem anderen Thema", hieß es, sobald ein Bürger bei einer Sache bleiben wollte. Als er einmal mehr unterbrochen wurde, sagte ein entnervter Juncker: "Sie haben das mit den kurzen Antworten. Ich nicht."
Dabei hätte es einiges gegeben, was man hätte ansprechen, ausführen können. Dass die beiden Kandidaten sich inhaltlich wenig unterscheiden, etwa. Schulz wirkte in der Debatte zwar dynamischer, alerter, leidenschaftlicher als Juncker, der sich einen Tick zu elder-statesman-haft-abgebrüht vermittelte. Aber inhaltlich gab es kaum Streit: Von Nationalisten und Rechten würde sich keiner von beiden jemals zum Präsidenten der EU-Kommission wählen lassen, gelobten sie. Die Eurobonds-Diskussion ist passé. Brüssel soll nicht zu viel regulieren und das Freihandelsabkommen mit den USA (TIIP) soll die europäischen Standards beim Verbraucherschutz keinesfalls mindern.
Wen will Merkel an der Spitze der Kommission?
Die Moderatoren hätten auch die dieser Tage wichtigen Fragen anreißen können: Was würde eine geringe Wahlbeteiligung (2009 in Deutschland: 43,4 Prozent) bedeuten? Wie soll mit den Rechten umgegangen werden, die mutmaßlich stark ins Parlament einziehen? Wie mit der AfD? Wie handhaben die Kandidaten die offene Skepsis der mächtigen Kanzlerin, die recht unverhohlen hat durchblicken lassen, dass sie sich so überhaupt nicht dazu verpflichtet fühlt, einen der beiden nach der Wahl tatsächlich von den Regierungschefs zum Kommissionspräsident machen zu lassen.
All das blieb in der Wahlarena gestern Abend außen vor, auch wenn es, zugegeben, ein paar Highlights gab. Dass Juncker etwa sagte, man solle sich doch bitte nicht über Google, Amazon und Co. zu sehr beschweren. Ärgerlich sei doch vor allem, dass die Europäer solche Firmen nicht hätten. Europa sei zu "zukunftsfaul", prägte Juncker einen schönen Begriff. Treffend sagte er auch in Sachen NSA: "Amerikaner müssen auch manchmal hinhören, und nicht nur abhören."
Am Ende der Sendung sagte Sonia Seymour Mikich, gleichsam als Betthupferl: "Ich wünsche allen viel Interesse an Europa." Die Wahlarena hat gestern zu so einem gesteigerten Interesse zu wenig beigetragen – und zur Abwechslung muss man sagen: das war nicht die Schuld der Kandidaten. Wo ist eigentlich Stefan Raab, wenn man ihn mal braucht? Der hat doch gezeigt, dass er - Code: King of Kotelett - Wahlkampfduelle kandidaten- und zuschauergerecht bewerkstelligen kann.