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Großmanöver "Northern Coasts" Deutschland und Partner proben in der Ostsee den etwas weniger unwahrscheinlichen Ernstfall

Marinemanöver "Northern Oceans"
Die niederländische Mehrzweckfregatte HNLMS Van Amstel (F831) fährt über die Ostsee. Zuletzt waren so viele internationale Staaten beim Nato-Manöber Baltrops Anfang Juni in der Ostsee unterwegs
© Jonas Walzberg / DPA
Wenn Russland das Baltikum angreift, wollen Deutschland und seine Nachbarn vorbereitet sein. Bei dem Marinemanöver "Northern Coasts" proben sie in der Ostsee den Ernstfall. Aber wie ernst ist die Lage gerade? Und ist Deutschland darauf vorbereitet?

Inhaltsverzeichnis

Großaufgebot in der Ostsee: Mehr als 3200 Soldaten aus 14 Ländern haben sich vor der Küste Lettlands und Estlands versammelt. Mit dabei sind 30 Schiffe, ein U-Boot, rund 20 Luftfahrzeuge und mehrere Landeinheiten. Eigentlich ist das nichts Besonderes. Immer wieder wird die Ostsee zum Schauplatz von Marinemanövern; zuletzt Anfang Juni bei der Nato-Übung "Baltops". Bis Ende September leitet Deutschland von Rostock aus das Manöver "Northern Coasts". Seit seiner Gründung 2007 durch die deutsche Marine versuchen Dänemark, Schweden, Finnland, Deutschland, Litauen, Polen, Estland und Lettland bei jährlichen Übungen ihre Zusammenarbeit zu stärken.

Doch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist in diesem Jahr einiges anders. Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, Kanada und die USA haben ebenfalls Soldaten in die Ostsee geschickt. Außerdem ist es das erste Mal, dass Deutschland ein Manöver leitet, dass 1000 Kilometer entfernt vor der Küste anderer Länder stattfindet. Es geht um den Ernstfall, Abschreckung, die Bündnisverteidigung. Und vor allem um eine klare Botschaft an Russland.

Was passiert beim Marinemanöver "Northern Coasts"?

Zwei Wochen lang werden die Truppen in den Küstengewässern und dem Land- und Luftraum Estlands und Lettlands trainieren. In der ersten Woche findet die "Aufwärmphase" statt, in der die Besatzungen ihre Fähigkeiten üben und auffrischen können. Laut Marine geht es dabei unter anderem um Minenräumung, Seeziel-Schießen, U-Bootjagd, elektronischen Kampf, Zusammenarbeit mit Aufklärern, Landungsoperationen und den Schutz von Häfen. In der zweiten Woche soll die Kommunikation zwischen den Schiffen, Booten und Luftfahrzeugen verbessert werden.

Warum ist das Manöver in diesem Jahr so besonders?

Noch nie war ein von Deutschland geführtes Manöver so groß. Die Anzahl der Schiffe und Flugzeuge, die er während des Manövers führen werde, sei fast so groß wie die gesamte deutsche Marine, sagte Flottenadmiral Stephan Haisch.

Zum ersten Mal in der Geschichte von "Northern Coasts" wird ein Szenario der Bündnisverteidigung geprobt und alle Bündnispartner der Nato beteiligt. "Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitslage im Ostseeraum grundlegend verändert (...). Übungen wie diese vermitteln die klare Botschaft, dass die Nato bereit ist, jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen", sagte ein Nato-Sprecher.

Der deutsche Marine-Chef Jan Christian Kaack sprach bei einer Pressekonferenz vor dem Großmanöver von einem Fingerzeig nach Moskau, um ein "klares Signal der Wachsamkeit" auch an die russischen Partner zu senden.

Wie wahrscheinlich ist ein russischer Angriff auf das Baltikum?

Laut Flottenadmiral Haisch ist die Lage vor Ort entspannt. Auch nach dem Überfall auf die Ukraine und die verstärkte Nato-Truppenpräsenz an der Ostsee und im Baltikum verhalte sich die russische Marine in der Ostsee wie in den Jahren zuvor. "Wir erleben keine Provokation. Man verhält sich seemännisch ganz sauber, ohne einem zu nahe zu kommen. Man grüßt sich freundlich", sagte Haisch. Trotzdem sei die Marine aufmerksamer als vor dem Krieg.

Die Ostsee gilt als Versorgungsweg für die Anliegerstaaten. Auch Russland gehört über die Enklave Kaliningrad dazu. Seit den Explosionen an den Nord Stream-Pipelines ist die Sorge groß, dass weitere Leitungen, etwa für Energie und Telekommunikation betroffen sein könnten – auch wenn bisher nicht abschließend geklärt ist, wer hinter den Angriffen steckt.

Im Frühjahr berichtete die Tagesschau allerdings von einer Russland-Strategie für das Baltikum. Demnach will Russland seinen Einfluss dort über eine neue Zusammenarbeit mit Lettland, Litauen und Estland erweitern. Den Nato-Einfluss will Moskau gleichzeitig zurückdrängen und weitere Stützpunkte des Militärbündnisses in der Region verhindern. Beobachter und Politiker der Region halten das Dokument für authentisch. Allerdings stammt das Papier vom Sommer 2021. Durch den Ukraine-Krieg sind die baltischen Staaten näher an den Westen herangerückt, als es Russland gerne gehabt hätte.

Was hat die Nord Stream-Sprengung mit dem Manöver zu tun?

Wer hinter den Explosionen an den Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 steckt ist bis heute nicht abschließend geklärt. Für Regierungen und Militär steht jedoch spätestens seitdem fest, dass die kritische Infrastruktur stärker geschützt werden muss. Wenn Taten zugeordnet werden könnten, könnten Täter abgeschreckt werden, ist Marine-Chef Kaack überzeugt. Welche Konsequenzen auf Angreifer und Gegner warten, ist allerdings noch unklar.

Wie soll die Infrastruktur in der Ostsee geschützt werden?

Die Bundesrepublik hat der Nato ein maritimes Hauptquartier unter deutscher Führung vorgeschlagen. Das Schreiben von Generalinspekteur Carsten Breuer liegt derzeit beim Stellvertreter des Nato-Oberbefehlshabers Europa. In Friedenszeiten könnte Deutschland damit größere Marine-Verbände in der Ostsee leiten – wie jetzt beim Großmanöver "Northern Coasts".

Marine-Inspekteur Kaack plädiert dafür, mit künstlicher Intelligenz Auffälligkeiten im Schiffsverkehr schneller aufzuspüren. Außerdem müsste die die Zusammenarbeit der Behörden genauer geregelt werden. "Wir sollten jetzt festlegen, wer was zu tun hat, in welchem Fall. Wir müssen heute wissen, was machen Behörden mit ihren Fahrzeugen wie Tonnenlegern, der Zoll, die Bundespolizei, der Fischereischutz, wenn es knallt", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Zudem sollten Militär, Behörden, Forschungsinstitute und die Industrie ihre Erkenntnisse besser teilen und austauschen können.

Auch wenn die Marine geheime Daten nicht in den zivilen Bereich geben werde, müsse es ein gemeinsames Lagebild geben. Kaack hält es für wahrscheinlich, dass das Maritime Sicherheitszentrum in Cuxhaven die offenen Daten von Industrie und Instituten sammeln wird. Dort werden bisher Kräfte unterschiedlicher Behörden, darunter der Wasserschutzpolizei, des Zoll, der deutschen Marine, des Haveriekommandos und der Bundespolizei gebündelt, um Straftaten auf See zu verfolgen. Künftig könnten dort sämtliche Daten verschiedene Behörden gebündelt und analysiert werden, glaubt Kaack.

Ist Russland den Nato-Truppen überlegen?

Bisher hätten sich die Behörden auf mögliche anfliegende Flugkörper aus dem Osten konzentriert, sagt Kaack. Wesentlich seien aber auch die russischen Pläne, "mit Nuklear-U-Booten in den Atlantik durchzubrechen und von hinten zu kommen, entweder nach Amerika oder nach Europa", erklärt der Marine-Chef.

Der Angriffskrieg auf die Ukraine habe die russische Marine gestärkt. Fortschritte hat Russland zuletzt vor allem bei der Navigation und Kommunikation im Unterwasserbereich gemacht. Unbemannte und bemannte Systeme unter oder auf dem Wasser können mit elektromagnetischem Spektrum unbemerkt bewegt werden.

Im Vergleich zur Nato seien die russischen Streitkräfte mit ihren Fähigkeiten aber nicht überlegen. Beide seien "auf Augenhöhe".

Quellen: Bundeswehr1, Bundeswehr2, Nato, Maritimes Sicherheitszentrum, Stiftung Wissenschaft und Politik, Tagesschau.de, mit Material von DPA

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