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Erschütternder Auftritt "Es war zu viel" oder: Das Ende der Vereinbarkeit

Anne Spiegel
Anne Spiegel hat bei einem kurzfristig einberufenen Statement ihren vierwöchigen Familienurlaub nach der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer als Fehler bezeichnet und sich dafür entschuldigt
© Annette Riedl / Picture Alliance / DPA
Anne Spiegel tritt zurück. Der Schritt war überfällig. Der Fall der Familienministerin offenbart eine politisch-menschliche Tragödie. Und er zeigt: Männer und Frauen müssen sich ihr Leben zurückholen. Und sich endlich vom Diktat lösen, dass Familie und Beruf immer und überall vereinbar sein sollen.

Abgekämpft sah sie aus. Und müde, unendlich müde. Ihre Stimme stockte. Ihr ganzes Leben legte sie uns zu Füßen. Erzählte von ihrem Mann, der einen Schlaganfall hatte. Von ihren vier Kindern, die unter den Corona-Beschränkungen litten. Und davon, dass ihre Familie diesen einen Urlaub im vergangenen Sommer, diese paar Wochen in Frankreich, kurz nach dem Jahrhunderthochwasser, so sehr brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Sie bat um Entschuldigung. Sie kämpft mit den Tränen. Es hat alles nichts mehr geholfen.

Man muss schon ein sehr hartes Herz haben, um nicht Mitgefühl zu empfinden für Anne Spiegel. Viele, die ihren Auftritt vor den Fernsehkameras am späten Sonntagabend gesehen haben, dürften unwillkürlich das Bedürfnis verspürt haben, sie einfach nur in den Arm zu nehmen: Anne, alles wird wieder gut. Ruh‘ Dich erst mal aus. Das kriegen wir schon wieder hin. 

Ringen um Erklärungen

Jetzt also der Rücktritt, der überfällig war. Zu krass ihr Versagen während der Flut, zu halbseiden ihre Geständnisse, mit denen sie die Wahrheit immer nur scheibchenweise rausrückte, immer nur das, was ohnehin nicht mehr abzustreiten war. 

Der Auftritt der grünen Familienministerin zu gespenstischer Zeit, an einem Sonntag um 21 Uhr, der auch gleichzeitig fast schon ein Abtritt war – er wird als Dokument in die bundesdeutsche Polit-Geschichte eingehen, bizarr und erschütternd zugleich. 

Diese gut sieben Minuten werden lange nachwirken, denn darin ist so vieles aufgehoben: menschliche Tragödie, professionelle Überforderung, aber auch: Die Gnadenlosigkeit eines politisch-medialen Betriebes, der Menschen in ihrer Fehlbarkeit nicht mehr als Menschen erkennt und nur noch als geschundene Kreatur zurücklässt, die sich dann vor Scheinwerfern in ihrer Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit zeigen, zeigen müssen. Deutschlands Familienministerin wirkte wie ein angeschossenes Tier. 

Anne Spiegel hat sich verloren. Obwohl ihr Mann im März 2019 einen Schlaganfall erlitt, wollte sie mehr, immer mehr. Zusätzlich zum Amt der Familienministerin noch das der Umweltministerin von Rheinland-Pfalz und obendrauf noch die Spitzenkandidatur der Grünen bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz. Dann schließlich, nächster Schritt auf der Karriereleiter: "Bundesministerin für Familie, Frauen, Senioren und Jugend". Doch schon in der Jahrhundert-Flut an der Ahr brach dieses Multitasking-Konstrukt in sich zusammen. Die Grünen-Politikerin konnte, das wird jetzt offenbar, weder ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht werden noch ihrer Familie zu Hause. 

Scheitern am gesellschaftlichen Ideal

Sie war im Hochwasser nicht präsent, sie war zum Teil nicht erreichbar, sie verschickte SMS, die heute den fatalen Eindruck erwecken, dass ihr das eigene Image und geschlechtergerechte Sprache mindestens so wichtig waren wie die Menschen, die im Hochwasser alles verloren hatten: "Bitte noch gendern, ansonsten Freigabe".

Dass sie mit der Wahrheit nur portionsweise rausrückte und zuletzt allen Ernstes behauptete, ihr sei nicht mehr präsent gewesen, dass sie mitten in der Hochwasser-Krise an mehreren Kabinettssitzungen anders als ursprünglich behauptet, gar nicht teilgenommen habe, auch nicht digital vom Urlaubsort aus – das macht die Sache leider nicht glaubwürdiger und damit auch nicht besser. 

Anne Spiegel ( Bündnis 90/die Grünen) bei einem kurzfristig einberufenen Statement

Es ist eine Tragödie. Deutschlands Familienministerin ist ausgerechnet an der Front gescheitert, die ihr als progressive Grünen-Politikerin so am Herzen liegt: der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist kein Frauen-Thema. Das ist ein Familien-Thema. Auch viele Männer wollen nicht mehr so leben wie noch ihre Väter, die sich auf Geld und Karriere reduzierten (oder reduzieren ließen) und das viel größere Glück, mit Kindern wirklich ein Leben zu leben und ihnen nicht abends nur noch einen schnellen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn zu drücken, an sich vorbeiziehen ließen. 

Aber die "Vereinbarkeit" ist längst zum gesellschaftlichen Leitbild geworden, zum ideologischen Fetisch, der anzubeten ist. Immer muss alles mit allem vereinbar sein, und am besten alles zugleich: ein interessanter, herausfordernder Job, glückliche "wohlgeratene" Kinder, ein attraktiver Partner oder eine attraktive Partnerin, tolle Reisen, ein schickes Zuhause. 

Emanzipation vom Vereinbarkeits-Diktat

Gerade in den tonangebenden Milieus der Republik gilt das als Leitbild und wer sich diesem rasenden Vereinbarkeits-Diktat nicht unterordnen will, wird gerne als weniger vital und leistungsfähig oder, schlimmer noch als etwas verzopft-rückständiger Konservativer hingestellt, der sich einem "modernen Familienbild" verweigert. 

Gerne sprechen "moderne" Familienpolitiker von der "Rush Hour des Lebens", wobei das Beispiel Anne Spiegel nun zeigt: Da ist unter Umständen ziemlich viel Rush – und wenig Hour. 

Wahre Freiheit und wahre Emanzipation beginnen vielleicht erst dort, wo Männer und Frauen sich von der Vereinbarkeits-Ideologie lösen und sich das zurückkämpfen, was sie am meisten brauchen, wenn sie sich auf das Abenteuer Familie einlassen wollen: Zeit. 

Aber Zeit gibt es nicht mehr. Zeit will die Wirtschaft den Familien nicht einräumen, die immer verzweifelter nach Arbeitskräften sucht. Zeit wollen aber auch all jene den Familien nicht mehr gewähren, die Druck ausüben, weil es angeblich nicht "modern" sein kann, wenn man sich hingeben und verschwenden will, für die Liebe zu seinen eigenen Kindern und wenn man das als die wahre "Selbstverwirklichung" sieht. 

Was für ein merkwürdiges Bündnis rückt da den Familien zu Leibe: moderne Emanzipationsrhetoriker und kapitalistische Verwertungsinteressenten nehmen sie in die Zange, die einen besorgen das Geschäft der anderen und sie werden nicht lockerlassen, bis von der Familie, wie wir sie kannten, nicht mehr viel übrig sein wird. Es ist Zeit, sich zu wehren und Freiräume, die Familienräume sein können, zurückzuerobern. Für Frauen und für Männer. 

Die bittere Ironie an der Causa Spiegel

Nicht Geld und auch nicht Kita-Plätze, so wichtig beides im Einzelfall auch sein mag, sind die wichtigste Ressource für Familien, sondern: Zeit. Das Glück, eine Familie zu sein, lässt sich nicht herbeifinanzieren und auch nicht herbeiorganisieren (auch wenn gute Organisation natürlich vieles erleichtert). Familie ist kein "Business Case", im Kern wird sie nicht durch Management zusammengehalten, sondern durch: Liebe. Dazu gehört auch, das erfährt Anne Spiegel gerade auf brutale Weise: Die Fähigkeit, loszulassen und auf anderes zu verzichten. Manchmal kann man alles mit allem vereinbaren. Aber oft genug eben auch nicht. Dann kann man das eine nur tun, wenn man das andere lässt. Das gilt für Männer genauso wie für Frauen. 

Das ist die bittere Ironie an der Causa Spiegel: Ausgerechnet die eigene politisch-private Tragödie der deutschen Familienministerin taugt als Lehrstück dafür, was Familien aushalten können und was nicht. Und, dass Eltern, die alles gewinnen wollen, am Ende vielleicht alles verlieren.

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