Rechter Terror in Deutschland Trauer, Unmut und drängende Fragen – wo steht Hanau ein Jahr nach dem Anschlag?

Ein Jahr nach rechtem Terror: Schwester von Hanau-Mordopfer: "Man kann nicht einfach abschließen"
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Das Gefühl, nicht einfach weitermachen zu können, als sei nichts gewesen, ist für Ajla Kurtovic geblieben. Ein Jahr ist es her, dass sie bei dem rassistischen Anschlag in Hanau ihren Bruder Hamza verloren hat. Am 19. Februar hatte er sich mit ein paar Freunden zum Fußball-Gucken in einer Bar verabredet. Als ein Mann das Feuer auf sie eröffnete, versuchten die Freunde noch, sich hinter der Theke zu verstecken. Vergeblich, denn der Täter setze nach und traf den 22-jährigen Hamza so schwer, dass er seinen Verletzungen später erlag. "Also wir wurden in der Tatnacht praktisch hingehalten, uns wurde ständig gesagt, dass mein Bruder nur leicht verwundet ist und in einem Krankenhaus liegt und man uns einfach noch nicht sagen kann, in welchem Krankenhaus liegt. Und um halb sieben Uhr morgens ungefähr wurde dann eine Liste verlesen mit den Namen, die es nicht geschafft haben und die tot sind. Und da haben wir erfahren, dass mein Bruder tot ist." Mit Ajla Kurtovics Bruder starben acht weitere Menschen. Ein 43-jähriger Deutscher hatte an Bars, Cafés und in einem Kiosk scheinbar willkürlich auf Menschen geschossen, die er offenbar für Einwanderer oder die Kinder von Einwanderern hielt. Der rassistisch motivierte Angriff hatte bundesweit Entsetzen ausgelöst. Der Täter hatte eine Videobotschaft und ein Bekennerschreiben hinterlassen und danach seine Mutter und sich selbst getötet. Er habe eine „zutiefst rassistische Gesinnung" gehabt, so der Wortlaut des Generalbundesanwalts. "Also das nimmt einen schon ein ganzes Stück weit mit. Und ich glaube, wer sowas erlebt, ich glaube, also man kann nicht einfach abschließen und so tun, als wäre nichts gewesen. Und man ist ja eigentlich ein Jahr später auch genauso. Wir stehen eigentlich genauso weit wie vor einem Jahr. Also wir wissen bis heute nicht, was wirklich passiert ist, in der Tatnacht und ob die Tat hätte verhindert werden können." Gemeinsam mit Überlebenden des Anschlags sowie Angehörigen der Opfer veröffentlichte die Initiative 19. Februar kurz vor dem Jahrestag Forderungen nach mehr Aufklärung, Erinnerungsarbeit und politische Konsequenzen des rassistisch motivierten Angriffs. "Also ich wünsche mir, dass der Sachverhalt vollständig aufgeklärt wird und dass die Frage auch beantwortet wird, wie es soweit kommen konnte und ob die Tat womöglich hätte verhindert werden können. Und dass dann aus den Fehlern, die passiert sind, Konsequenzen gezogen werden, damit sich sowas wie in Hanau einfach nicht wiederholt." Am Jahrestag selbst wird im Beisein des Bundespräsidenten eine Gedenkfeier in Hanau abgehalten. Gedacht wird: Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, und Said Nesar Hashemi.
Vor einem Jahr sterben neun Menschen bei einem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau. Neben der Tataufarbeitung und der Unterstützung für die Betroffenen bleibt auch das Eintreten gegen Rassismus und Rechtsextremismus Daueraufgabe für Behörden, Politik und Gesellschaft.

Ein Jahr ist es her, dass der Deutsche Tobias R. in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven erschoss – und noch immer sind Entsetzen und Ratlosigkeit über die Tat in der Stadt greifbar. An diesem Freitag werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) das zu spüren bekommen, wenn sie zusammen mit dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) und Angehörigen der Toten an der Gedenkfeier teilnehmen. Neben Trauer und Schmerz werden auch die drängenden Fragen der Opferfamilien den Jahrestag bestimmen. Doch ob und welche Antworten die Politik darauf finden wird, ist offen.

"Warnsignale" nicht gehört?

Vielfach hatten die Angehörigen in den vergangenen zwölf Monaten Konsequenzen aus der Tat gefordert – allen voran ein entschiedeneres Eintreten gegen Rechts. Den Behörden warfen sie vor, "Warnsignale" nicht ernst genug genommen zu haben, zuletzt etwa Ajla Kurtovic, deren Bruder Hamza unter den neun Todesopfern des Anschlags war. Neben Pamphleten mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten, die der 43 Jahre alte Täter vor der Tat im Internet veröffentlicht hatte, gehört dazu auch ein von ihm verfasster, sehr wirrer Brief, der Monate zuvor beim Generalbundesanwalt eingegangen war.

Warum wurde dem nicht nachgegangen und warum durfte Tobias R. Waffen besitzen? Wie kann eine solche Tat künftig verhindert werden? Diese Fragen treiben nicht nur die Familien um. Schärfer formuliert es die "Initiative 19. Februar Hanau", ein Zusammenschluss von Hanauer Angehörigen. In einem der Texte auf ihrer Homepage ist von einem "Versagen der Behörden, während und nach der Tat", von "Schwerfälligkeit der Ämter bei der Unterstützung und Hilfe" und von "unverzeihlichem Fehlverhalten der Sicherheitskräfte in der Tatnacht" die Rede. Er zeigt, wie tief die Wunden und die Zerrissenheit in Hanau auch ein Jahr nach dem Anschlag noch sind.

Das prägt auch die Arbeit von Helmut Fünfsinn, Opferbeauftragter der hessischen Landesregierung und ehemaliger hessischer Generalstaatsanwalt. Seit Februar vergangenen Jahres kümmert er sich als persönlicher Ansprechpartner im Zusammenspiel mit dem Bundesopferbeauftragten Edgar Franke, dem Hanauer Opferbeauftragten Andreas Jäger und anderen Beteiligten um Anliegen der Betroffenen und koordiniert Kontakte zu Ansprechpartnern. Eine Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erfordert, wie Fünfsinn deutlich macht: "Es ist sicherlich nicht leicht – von der Landesregierung bin ich bewusst als staatliche Stelle eingesetzt worden – ein tiefes Vertrauensverhältnis zu schaffen.“

Neben finanziellen Hilfen und Unterstützung beim Umgang mit Behörden sorgen Fünfsinn und seine Mitstreiter dafür, dass die Betroffenen auch psychosoziale Unterstützung bei der Verarbeitung von Traumata und Trauer bekommen, beispielsweise über die Hanauer Hilfe, eine Beratung für Opfer und Zeugen von Straftaten. Ziel sei es letztlich, "so zu helfen, dass wieder eine Annäherung an ein normales Leben möglich sein wird", sagt Fünfsinn, macht aber auch deutlich: "Das wird ein langer Prozess sein, aber ich hoffe sehr, dass dieser Prozess doch in größeren Teilen gelingen wird."

Als besonders schwierig für die Hinterbliebenen schätzt der ehemalige Generalstaatsanwalt ein, dass es nach diesem beispiellosen rassistischen Terroranschlag nach aller Voraussicht kein Strafverfahren geben wird, da sich der Täter selbst richtete. Denn auch wenn die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft noch nicht abgeschlossen sind: Bisher sollen sich nach Medienberichten keine Hinweise darauf ergeben haben, dass Tobias R. Mitwisser oder Helfer hatte. "Natürlich ist es ganz, ganz schwierig zu ertragen, dass hier der Täter nicht mehr einer gerechten staatlichen Strafe zugeführt wird und dass nicht vielleicht doch noch die eine oder andere Frage beantwortet werden kann", sagt Fünfsinn. Es sei auch nachvollziehbar, dass Menschen, denen "das Liebste genommen wurde", in dieser Situation auch weitere Schuldige suchen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Man kann nicht sagen, dass der Staat wegschaut"

Zuletzt dürfte die Mitteilung von Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), der Hanauer Polizeinotruf sei in der Tatnacht überlastet gewesen, den Unmut der Angehörigen geschürt haben. Brisant ist dieses Eingeständnis deshalb, weil eines der Opfer, der 22 Jahre alte Vili Viorel Paun, den Täter nach den ersten Schüssen mit seinem Auto verfolgt haben soll, um ihn zu stoppen - und dabei mehrfach vergeblich den Notruf gewählt haben soll. Kurz darauf war er von Tobias R. in seinem Auto erschossen worden. Auch wenn Beuth nun, ein Jahr nach der Tat, technische Gründe für den Engpass verantwortlich macht und auf das dennoch schnelle Handeln der Einsatzkräfte hinweist, bleibt die Frage, ob die Polizei Paun nicht hätte aufhalten können, wäre er bei dem Notruf durchgekommen.

Auf der anderen Seite habe es auch Dinge gegeben, die nach der Tat und bei der Aufarbeitung richtig gelaufen seien, sagt Fünfsinn. So sei es – neben dem schnellen Eintreffen der Polizei am Tatort – wichtig gewesen, dass der Generalbundesanwalt noch in der Tatnacht das Verfahren übernommen habe. Auch beim Engagement gegen Rechtsextremismus sieht Fünfsinn Fortschritte – und verweist etwa auf einen neuen Fonds für Projekte gegen Extremismus, auf das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus sowie auf das Aktionsprogramm "Hessen gegen Hetze" – "also man kann nicht sagen, dass Hessen nichts tut", sagt Fünfsinn. Ob sich der Alltagsrassismus, "den man nicht leugnen kann", dadurch beeindrucken lasse, stehe auf einem anderen Blatt.

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So hätten die Behörden alleine in der Tatnacht vom 19. zum 20. Februar 2020 über 50 Hassmails wahrgenommen. Über die bei der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft angesiedelte Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität seien die Verfasser verfolgt und auch teils bereits verurteilt worden, sagt Fünfsinn. "Will sagen: Wir tun schon was. Es mag sein, dass die Angehörigen das als viel zu wenig erachten, aber man kann nicht sagen, dass der Staat wegschaut." Zugleich äußert der hessische Opferbeauftragte die Hoffnung, dass auch durch die Arbeit in der Extremismusprävention solche Taten künftig verhindert werden können – "sicher ist man allerdings leider nie."

Erst vergangenen Donnerstag hatte der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent mit Blick auf den Hanauer Anschlag deutlich gemacht, dass aus seiner Sicht die gesamte Gesellschaft im Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus gefordert ist - und erst ganz am Anfang eines langen Lernprozesses stehe.

DPA
Christine Schultze / fs