Als Emil Tschetschko in der vergangenen Woche vor die Kameras trat, frohlockten die belarussischen Propagandisten und das Regime um Diktator Alexander Lukaschenko vor purer Schadenfreude. Noch vor kurzem diente der junge Mann an der belarussisch-polnischen Grenze – auf der polnischen Seite. Jetzt saß er im Studio des belarussischen Staatssenders ONT und erzählte von den vermeintlichen grausamen Verbrechen des polnischen Militärs, die im Zuge der künstlich erzeugten Migrationskrise zwischen Belarus und der EU begangenen worden seien.
Stolz präsentierten die belarussischen Propagandisten den Zuschauern nun "das Zeugnis des einzigen edelmütigen Polen", der mit eigenen Augen gesehen haben will, wie polnische Soldaten zwei Aktivisten an der Grenze ermordet hätten. "Es ist unmöglich darüber zu schweigen, was auf dem Territorium Polens geschieht", behauptet der polnische Deserteur in dem Interview und begründet so seinen Seitenwechsel.

Kein einziges Mal blickt er zur Kamera auf. Sein Blick huscht zwischen seinen Füßen und der Moderatorin hin und her. Auf dem Ärmel seiner Jacke prangt die polnische Fahne. Wie er zu dem Kleidungsstück gekommen ist, bleibt ein Rätsel. Beginnt er doch seine Erzählung mit der Behauptung, er habe nackt die Grenze überqueren müssen und habe sich seiner Uniform entledigt.
Doch für die Show könne ohne eine polnische Fahne nicht auskommen, entschieden wohl die Macher. Für die belarussische Propaganda ist ein polnischer Deserteur der größte Coup seit langem.
"Er hätte nie zum Grenzdienst geschickt werden dürfen"
Nach Angaben aus Warschau überquerte Tschetschko am 16. Dezember die Grenze und beantragte politisches Asyl in Belarus. Der stellvertretende polnische Verteidigungsminister Wojciech Skurkevich betonte, dass der Soldat auf diese Weise die Charta der polnischen Armee und die Bestimmungen des Strafgesetzbuches verletzt habe. "Wir haben es mit einer Verletzung der Grundprinzipien der Funktionsweise der polnischen Armee zu tun", erklärte er. "Hier wurde das Einsatzgebiet und der Dienstposten verlassen, Waffen mit Munition wurden unbeaufsichtigt zurückgelassen. All dies ist inakzeptabel und unzulässig. Dies wird weitreichende Folgen haben."
Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak hat inzwischen die Vorgesetzten , denen Tschetschko unterstellt war, aus dem Militärdienst entlassen. Blaszczak gab bekannt, dass der Deserteur Probleme mit dem Gesetz gehabt hatte und aus der Armee austreten wollte. "Er hätte nie zum Grenzdienst geschickt werden dürfen", twitterte er.
Strafregister des Emil Tschetschko
Wie polnische Medien berichteten, war Tschetschko am 11. Dezember wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen worden. In seinem Blut wurden fast 1,5 Promille Alkohol nachgewiesen. Ein Drogentest habe zudem ergeben, dass der Soldat Marihuana konsumiert hatte.

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Außerdem wurde Tschetschko bereits wegen körperlicher und seelischer Nötigung gegen Familienangehörige verurteilt. Laut der polnischen Regionalzeitung "Gazeta Olsztyńka" sei er gegenüber seiner Mutter tatkräftig geworden. Außerdem wird er verdächtig, einen Unfall verursacht zu haben.
Als Spion von Belarus rekrutiert?
Nun stellt sich die Frage, ob die strafrechtlichen Probleme in der Heimat Tschetschko zu dem Seitenwechsel bewogen haben oder ob er bereits länger als Spion tätig war. Polnische Spezialdienste ermitteln. Im Raum steht auch die Version, dass der Soldat von Belarus zu dem Seitenwechsel gezwungen worden ist. "Vom Beginn der Operation an der polnisch-belarussischen Grenze an hatte es für den Feind oberste Priorität, etwas über die Moral in der polnischen Armee in Erfahrung zu bringen. Sie wollen wissen, wer familiäre Probleme hat, wer suchtkrank ist oder wer Geldprobleme hat. Sie können diese Informationen dann verwenden, um polnische Soldaten zu rekrutieren“, berichtete eine anonyme Quelle aus den Ermittlungskreisen gegenüber dem polnischen Recherchenetzwerk "Onet".
Mehrere unabhängige Quellen, die mit der Armee und den militärischen Geheimdiensten in Verbindung stehen, sagten gegenüber "Onet", dass Tschetschko im Verdacht steht, als belarussischer Spion oder zumindest als Informant eines belarussischen Agenten tätig gewesen zu sein.
"Wenn ein Soldat in polnischer Uniform die Grenze zu Belarus überqueren würde, würde man ihn erschießen oder festnehmen und ins Gefängnis stecken, um ihn mehrere Tage zu verhören," erklärte eine Quelle. Tschetschko habe aber am späten Abend die Grenze überquert und am frühen Morgen bereits belarussischen Journalisten ein Interview gegeben. "Ich habe keinen Zweifel, dass es sich um eine vorbereitete und im Voraus arrangierte Operation handelt", so der anonyme Informant.
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