Die Lage in Belarus spitzt sich weiter zu. Seit dem 9. August gehen die Menschen auf die Straße. Sie wollen das Regime von Alexander Lukaschenko beenden. Doch Europas letzter Diktator klammert sich mit aller Kraft an seine Macht. Zu Beginn der Protestwelle waren Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstranten vorgegangen. Danach hielt sich die Polizei weitgehend zurück. Seit Tagen gibt es wieder vermehrt Festnahmen. Das Menschenrechtszentrum "Wesna" zählte allein in der Nacht zum Freitag mehr als 260 Menschen, die festgenommen wurden.
Für Sonntag werden in Minsk erneut Massenproteste erwartet. Lukaschneko drohte im Vorfeld mit dem Einsatz der Armee gegen das eigene Volk. Die Angst vor Gewalt wächst, zumal der russische Präsident Wladimir Putin Lukaschenko den Rücken stärkt. Dabei haben bereits mindestens sechs Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit den Protesten in Verbindung gebracht werden, unter seltsamen Umständen ihr Leben verloren.
Alexander Taraikowsky
Am Abend des 10. August fand sich Alexander Taraikowsky im Epizentrum der Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Demonstranten wieder. Nach Angaben seiner Frau war der 44-Jährige zu der Kundgebung gegangen, weil er "über die Inhaftierungen empört war", wie sie dem Sender "Radio Swabody" erzählte. Am selben Tag meldete das belarussische Innenministerium den Tod eines der Demonstranten (ohne Angabe seines Namens). Der Verstorbene habe versucht, "ein nicht identifiziertes Sprengmittel in Richtung der Polizeibeamten zu werfen", aber "es explodierte in seiner Hand", wodurch "der Mann Verletzungen erlitt, die mit dem Leben unvereinbar waren", hieß in der Mitteilung. Später ließ man verlauten, es habe sich um eine Granate gehandelt.
Erst zwei Tages später informierte die Polizei Taraikowskys Frau über seinen Tod. An die Version der Polizei glaubte sie keinen Augenblick. Videoaufnahmen gaben ihr schließlich recht. Mehrere Kameras hatten das Geschehen an jenem Abend des 10. August an der Kreuzung zwischen der Puschkin-Straße und der Pritytsky-Straße eingefangen.
Das Recherchenetztwerk Conflict Intelligence Team wertete das Filmmaterial aus und kam zu dem Schluss, dass der Mann auf den Videos durch einen Schuss getötet wurde, der entweder von einem KGB-Soldaten der Spezialeinheit "Alpha" oder von einem Offizier der Spezialkräfte des Innenministeriums abgefeuert worden sein musste. Wenige Tage später tauchte weiteres Videomaterial auf, das den Augenblick zeigt, in dem Taraikowsky erschossen wird.
Der Leiter des belarussischen Innenministeriums, Yuri Karaew, gab am Ende zu, dass ein Schuss und keine explodierte Granate das Leben von Alexander Taraikowsky beendet hat.
Alexander Vichor
Der junge Alexander Vichor wurde am Tag der Präsidentschaftswahlen am 9. August in der Stadt Gomel festgenommen. Das Innenministerium behauptet, der 25-Jährige habe an einem Protest gegen Alexander Lukaschenko teilgenommen. Vichors Mutter sagte jedoch aus, dass er an jenem Tag lediglich unterwegs zu seiner Freundin war. Am Tag nach seiner Festnahme habe er sie um 5 Uhr morgens zum letzten Mal angerufen, erzählte sie dem lokalen Nachrichtenportal "Tut". Am 11. August erfuhr die Familie, dass Vichor in Isolationshaft war. Am 12. August wurde die Mutter darüber informiert, dass ihr Sohn gestorben war.
Eine Drogenüberdosis sei die Todesursache, hieß es von der Polizei. Die Angehörigen des Verstorbenen schwören jedoch, dass Vichor ein begeisterter Sportler war und nie Drogen konsumiert hat. Außerdem stellt sich die Frage, wie der junge Mann an Drogen gekommen sein soll, wenn er in Isolationshaft saß. Die Behörden weigern sich bis heute, Ermittlungen zu den Umständen seines Todes aufzunehmen.
Gennadij Schutow
Gennadij Schutow verschwand am 11. August nach einer Demonstration gegen Lukaschenko im Zentrum von Brest. Wie im Fall von Taraikowsky und Vichor konnten die Verwandten mehrere Tage lang nichts über seinen Verbleib herausfinden. Erst am 13. August erfuhren sie, dass der 44-Jährige mit einer "offenen Schusswunde am Schädel" in ein Militärkrankenhaus in Minsk eingeliefert worden war. Am 19. August starb er.
Das belarussische Innenministerium hatte noch am 12. August gemeldet, dass die Polizei am Abend des 11. August in Brest auf Demonstranten geschossen hatte - mit dem Ziel sie zu töten, gab man unumwunden zu. "Um das Leben und die Gesundheit der Mitarbeiter zu schützen, wurden Waffen zum Töten eingesetzt. Einer der Angreifer wurde verwundet", hieß es in einer Mitteilung. Die Polizisten hätten sich auf diese Weise, gegen "aggressiver Bürger mit Armaturen in den Händen" gewehrt, behauptete man.
Augenzeugen sagten aus, dass Schutow niemanden angegriffen habe. Der Schuss auf ihn sei von einem Dach abgefeuert worden. Gennadij Schutow hinterlässt fünf Kinder. Wie in den beiden vorhergenannten Fällen wurden auch in seinem Fall keine Ermittlungen eingeleitet.
Artjom Porukow
Artjom Porukow starb in der Nacht des 16. August. Das Innenministerium erklärte, der 19-Jährige habe an "Massenveranstaltungen" teilgenommen und sei währenddessen von einem Auto überfahren worden. Doch zum Zeitpunkt des Unfalls fanden in Minsk keine Demonstrationen oder Kundgebungen statt. "Artjom hat an nichts teilgenommen, er ist einfach nach Hause gegangen", erzählte sein Cousin dem Radiosender "Euroradio". "Aus irgendeinem Grund - wir verstehen nicht warum - ist er von der Straßenseite, auf der sich unser Haus befindet, auf die andere Seite gerannt. Wir glauben, er wurde von einem Auto überfahren, als er versucht hat, vor jemandem wegzulaufen." Die Verwandten von Porukow hoffen nun, Augenzeugen zu finden, die den Unfall oder die vorangegangen Ereignisse auf Video aufgenommen haben.
Konstantin Schischmakow
Konstantin Schischmakow, Direktor des Militärhistorischen Museums in der Stadt Waukawysk in der Region Grodno, verschwand am 15. August. Am Tag seines Verschwindens rief der 29-Jährige seine Frau an und teilte ihr mit, dass er nicht mehr "im Museum arbeiten könne und wolle", erzählte sein Vater dem Nachrichtenportal "Tut". Er vermutet, dass sein Sohn gefeuert worden sein könnte, weil er während der Präsidentschaftswahlen in der Wahlkommission tätig war und anschließend sich geweigert hatte, das endgültige Abstimmungsprotokoll zu unterzeichnen.
Drei Tage später fanden freiwillige Helfer Schischmakows Leiche in einem Fluss. Das Ermittlungskomitee der Region Grodno geht von einem Suizid aus. Sein Vater glaubt, dass sein Sohn zu diesem verzweifelten Schritt gezwungen wurde. "Er war ein ehrlicher Mann. Er war kein Revolutionär, er war nur ehrlich. Er tat, was er tat: Er unterschrieb das Protokoll nicht", sagte er gegenüber "Radio Swaboda". Konstantin Schischmakow hinterlässt eine vierjährige Tochter.
Nikita Kriwtsow
Nikita Kriwtsow aus der Stadt Schodsina verschwand am 12. August. Am Sonntag, dem 23. August, fanden ihn Freiwillige aufgehängt an einem Baum. Das Ermittlungskomitee von Belarus besteht im offiziellen Bericht über den Tod des 28-Jährigen darauf, dass er nichts mit den Protesten gegen Alexander Lukaschenko zu tun hatte, nicht von der Polizei festgenommen wurde und nicht an Kundgebungen teilgenommen hat. Wie im Fall von Schischmakow stellte man keine Gewalteinwirkung fest.
Die Mutter des Toten sagte jedoch aus, dass ihr Sohn an den Kundgebungen teilgenommen hatte. Den Leichnam habe sie bis heute nicht sehen dürfe, sagte sie gegenüber "Euroradio". Die Freunde und Angehörige des jungen Mannes schwören, dass er niemals seine kleine Tochter alleine gelassen hätte. Sie fordern die Aufnahme von Ermittlungen. Bislang vergebens.