In Belarus (Weißrussland) spielt sich in diesen Tagen ein Drama historischen Ausmaßes ab. Der Ausgang ist noch ungewiss. Doch es mehren sich Anzeichen, dass es dem belarussischen Volk tatsächlich gelingen könnte, den Diktator Alexander Lukaschenko von seinem Thron zu stoßen. Seit einer Woche gehen im ganzen Land hunderttausende Menschen auf die Straße und protestieren gegen den offensichtlichen Wahlbetrug, mit dem Lukaschenko sein weiteres Verbleiben an der Macht rechtfertigen wollte. Brutale Polizeigewalt, grenzenlose Willkür, wüste Drohungen - nichts, was der Diktator bislang unternommen hat, hat die Proteste stoppen können.
Wie verzweifelt Lukaschenko inzwischen sein muss, demonstrierte er am Sonntag ungewollt selbst. Er griff auf eine Methode zurück, der sich alle Diktatoren dieser Welt gerne bedienen: die Mär vom äußeren Feind. Wenn nichts mehr hilft, muss eine Bedrohung von außen her, so die gängige Praxis. Die Angst vor einem Feind - metus hostilis - vereint eine Nation, das wusste schon der römische Geschichtsschreiber und Politiker Sallust. Für Lukaschenko darf nun die Nato die Rolle dieses Feindes spielen.
In Polen, Litauen und Lettland würden militärische Kräfte zusammengezogen werden. "Schaut doch mal aus dem Fenster. Panzer und Flugzeuge sind nur 15 Minuten von unseren Grenzen entfernt", schrie Lukaschenko hysterisch bei eine inszenierten Kundgebung zu seiner Unterstützung. "Die Nato-Leute klirren mit Panzerketten an unserer Westgrenze. An den westlichen Toren unseres Landes baut sich eine militärische Macht auf. [...] Und anstatt auf dem Trainingsgelände im Westen unsere Stärke zu demonstrieren, halten wir unsere Jungs auf den Straßen und Plätzen, um sie (die Demonstranten, Anm. d. Red.) zu beruhigen."
Werde man der Forderung nach Neuwahlen nachgeben, werde man als "als Staat, als Volk, als Nation zugrunde gehen", beschwor Lukaschenko eine düstere Zukunft herauf. "Uns werden neue Wahlen vorgeschlagen. Aber wenn wir in diesen Sumpf eintauchen, werden wir nie wieder herauskommen. Sie wollen uns zerstören, sie wollen uns schwächen. Wer wird diese Wahlen abhalten? Wer wird zu dieser Wahl gehen? Banditen und Verbrecher", setzte er seine Tirade fort. Selbst wenn er tot sei, werde er nicht zulassen, dass jemand das Land weggibt.
Theater für Alexander Lukaschenko
Zehntausend Menschen ließ Lukaschenko für seinen Auftritt nach Minsk karren. Sie sollten die Illusion aufrechterhalten, dass er noch Unterstützung im Land hat. Dabei nahmen sie nicht alle freiwillig an dem Theater teil. Aufnahmen zeigen, wie die vermeintlichen Unterstützer Lukaschenkos in Bussen unter Bewachung nach Minsk gebracht werden. "80 Prozent der Anhänger von Lukaschenko kamen absolut freiwillig nach Minsk. Der Umstand, dass die Busse identisch sind und von einer Eskorte begleitet werden ist nur ein Zufall", kommentierte ein Twitter-Nutzer sarkastisch seine Aufnahme.
Am Montag unternahm Lukaschenko einen weiteren Versuch zu zeigen, dass er die Unterstützung seines Volkes nicht verloren hat. Mit einem Hubschrauber ließ er sich zu dem Radschlepperwerk MZKT bringen. Dort wollte er zu den streikenden Arbeitern sprechen. Doch im Werk wurde er mit Buhrufen und Parolen wie "Geh!" und "Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht verzeihen" empfangen. "Solange ihr mich nicht tötet, wird es keine weiteren Wahlen geben", verkündete er erbost und stieg bald wieder in seinen Hubschrauber.
Am Nachmittag, nachdem er auch in anderen Werken und Fabriken ausgebuht worden war, ließ Lukaschenko schließlich doch verlauten, dass Neuwahlen möglich wären. Unter einer Bedingung: Belarus bekommt eine neue Verfassung. "Sie sollte in einem Referendum verabschiedet werden, weil wir die vorherige Verfassung in einem Referendum verabschiedet haben und, wenn Sie wollen, können wir dann Wahlen abhalten", zitierte ihn der Fernsehsender Belarus 24.
Kein Zurück
Für viele Beobachter ist das Schicksal Lukaschenkos jedoch bereits seit dem vergangenen Donnerstag besiegelt. Dieser Tag gilt als Wendepunkt. Nach drei Tagen voller Gewalt und Willkür gingen die Menschen an diesem Tag wieder auf die Straße. Trotz aller Berichte darüber, wie Festgenommene im eigenen Blut auf dem Boden kriechen mussten oder wie Männern Muster von Kreuzen auf den Rücken geschlagen wurden, während man sie zwang, die Nationalhymne zu singen. Trotz der Folter, bei der Menschen die Finger gebrochen wurden, damit sie die Passwörter für ihre Handys verrieten. Trotz des Anblicks von Frauen, denen die Haare abgeschnitten, Hosen runtergezogen und Gruppenvergewaltigungen angedroht wurden.
Die Strategie der Einschüchterung ging nicht auf. Am Sonntag nahmen nach Einschätzung von Aktivisten mehr als eine halbe Million Menschen an den landesweiten Protesten teil. Allein in der Hauptstadt Minsk waren es Hunderttausende. Der Widerstand ist großflächig. Prominente Moderatoren aus den Staatsmedien kündigten ihre Jobs, die ersten Angestellten der Präsidentialverwaltung ebenfalls. Polizisten warfen ihre Uniformen weg und stellten Videos davon ins Internet. Bekannte Sportler sprachen sich gegen den Machthaber aus. Die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa schrieb angesichts der Härte der Einsatzkräfte auf Instagram: "Lasst diesen ungerechten Horror auf den Straßen nicht weitergehen."
Lukaschenko sucht Hilfe in Russland
Lukaschenkos Reaktion? Er ließ am Montag die Armee des Landes mit Militärübungen an der Grenze zu Litauen beginnen. Für Litauens Verteidigungsminister Raimundas Karoblis ein Affront. Die belarussische Führung versuche, "ein Narrativ der sogenannten ausländischen Bedrohung zu entwickeln", sagte Karoblis der Nachrichtenagentur AFP.
Unterdessen sucht Lukaschenko Hilfe bei seinem großen Nachbarn: Russland. Obwohl erst kurz vor der Wahl die "äußere Bedrohung" noch aus Russland kam. Plump inszenierte er noch eine Festnahme von russischen Söldnern, die angeblich die Lage im Land zu destabilisieren sollten. Lukaschenko warf Russland vor, sich einmischen zu wollen.
Am vergangenen Samstag und Sonntag telefonierte er aber nun gleich zweimal mit Wladimir Putin und bat Russlands Präsidenten offenbar genau um dies. Nach Lukaschenkos Worten habe der Kremlchef ihm Unterstützung angeboten. Doch die Signale aus dem Kreml sind nicht eindeutig. Dass Lukaschenko seinen Job behält, scheint für Moskau nicht oberste Priorität zu haben. Tatsächlich ist es fraglich, ob Putin bereit ist, Minsk in einem Notfall-Szenario militärisch zur Hilfe zu eilen. Der russische Präsident scheint viel mehr abzuwarten, welches Schicksal Lukaschenko blüht - vor allem da ihm vom Osten seines Landes dieselbe Gefahr droht.
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